Zum Hauptinhalt springen

Öffnet Assad den Giftschrank?

Von Alexander Dworzak

Politik

Israel fürchtet, dass Waffenarsenal der Syrer in die Hände der Hisbollah gerät.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Damaskus/New York/Brüssel.

Immer enger wird es für Bashar al-Assad. Trotz intensivem Waffeneinsatz kann das Militär des syrischen Machthabers die Rebellen nicht entscheidend zurückdrängen, und selbst der treue
Verbündete Russland zeigt verstärkt Absetzbewegungen. Einen Trumpf besitzt Assad noch: sein riesiges Arsenal an Giftwaffen.

Mit großer Sorge beobachten westliche Geheimdienste, dass die syrische Armee in den vergangenen Tagen ihre chemischen Waffen verlegt hat. Es scheine Vorbereitungen für deren Einsatz zu geben, sagte ein US-Beamter zur "New York Times". Präsident Barack Obama droht bereits mit Konsequenzen, sollte Assad tatsächlich auf den Nervenkampfstoff Sarin und andere Substanzen (siehe Wissen) zurückgreifen. "Wenn Sie den tragischen Fehler begehen, diese Waffen einzusetzen, wird dies Konsequenzen haben und Sie werden dafür zur Verantwortung gezogen", sagte Obama in Richtung des syrischen Diktators.

Bereits im August sprach Obama von diesem Szenario als "roter Linie", bei der die Vereinigten Staaten militärisch eingreifen würden. Was im Sommer als Wahlkampfgeplänkel des um seine Wiederwahl ritternden Staatschefs galt, nehmen sowohl der Präsident als auch seine Außenministerin weiter ernst. Und Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen erklärte am Dienstag, der Einsatz von Chemiewaffen würde "eine unverzügliche Reaktion der internationalen Gemeinschaft" auslösen.

Hinter den scharfen verbalen Angriffen steckt die Furcht der USA, der in die Defensive gedrängte Assad könnte zu einer - möglicherweise letzten - Verzweiflungstat ausholen. Im US-Verteidigungsministerium werden Pläne gewälzt, wie viele Truppen für einen Einsatz nötig wären; das Pentagon geht von 75.000 Soldaten aus. Es wäre ein Krieg wider Willen: Im Gegensatz zu arabischen Ländern, allen voran Saudi-Arabien und Katar, war Obama bisher sehr zurückhaltend mit seiner Unterstützung der Rebellen in Syrien. So wurden Kämpfer nicht mit Waffen beliefert - aus Angst, diese könnten islamistischen Gruppierungen in die Hände fallen. Nicht einmal die im November gegründete syrische Nationale Koalition, der neue Zusammenschluss der Opposition, wurde von Washington bisher formell anerkannt.

Assads Unberechenbarkeit

Als weiterer Unsicherheitsfaktor gilt Assad selbst: "Es ist sehr schwer, sein Verhalten vorauszusagen. Aber wir sehen jetzt etwas, das wir bislang noch nicht gesehen haben", so ein hochrangiger israelischer Beamter laut "New York Times". Dass chemische Waffen Islamisten oder der mit Assad verbündeten libanesischen Hisbollah in die Hände fallen, ist das Horrorszenario für die Regierung in Jerusalem - die für diesen Fall mit militärischem Eingreifen droht. Bereits im Juli sicherte Syriens Regime verstärkt seine Chemiewaffendepots. Denn ein Großteil der Kampfstoffe lagerte nur rund 20 Kilometer von der Rebellenhochburg Aleppo entfernt.

Angesichts der anhaltenden schweren Kämpfe - alleine am Dienstag starben 123 Personen - reduziert die EU ihre diplomatische Präsenz auf ein Minimum. Österreichs Botschaft in Damaskus ist geöffnet, allerdings bis auf Weiteres nur mit administrativem, lokalem Personal besetzt, so das Außenministerium auf Anfrage der "Wiener Zeitung".

"Patriots" für die Türkei

Unterdessen trafen am Dienstag die Außenminister der Nato-Mitgliedsstaaten zusammen, um die Stationierung von "Patriot"-Abwehrraketen in der Türkei abzunicken. Die Regierung in Ankara bat um deren Entsendung, sie verspricht sich einen besseren Schutz des 900 Kilometer langen Grenzgebiets zu Syrien, in dem es in der Vergangenheit zu Gefechten kam. Der Einsatz der "Patriots" gilt als Signal der Abschreckung an Bashar al-Assad.

Lediglich die USA, die Niederlande und Deutschland verfügen über die modernsten Abwehrbatterien. Die Regierung in Berlin signalisiert Bereitschaft, Gerät und Personal bereitzustellen. Bereits morgen, Donnerstag, stimmt Angela Merkels Kabinett über den Einsatz ab, in der kommenden Woche soll das Thema im Bundestag beschlossen werden. Eine Stationierung des Geräts ist somit noch vor Jahresende möglich.

Wissen

Über rund 1000 Tonnen hochgiftiger Kampfstoffe verfügt Syrien nach Einschätzung westlicher Geheimdienste. Nach den Niederlagen in den Kriegen gegen Israel 1967 und 1973 entwickelte Damaskus mithilfe der Sowjetunion ein Chemiewaffenprogramm - gedacht als strategische Abschreckung und Gegenstück zu Israels Atomwaffenprogramm.

Sarin, Senfgas und VX sollen im Besitz von Syriens Armee sein. Als Nervenkampfstoff hemmt Sarin ein Enzym, in der Folge verkrampft die Muskulatur. Patienten zeigen erst verstärkten Speichelfluss, dann Muskelzuckungen, Darmentleerung, Erbrechen, Krämpfe, schließlich kommt es zur Atemlähmung - die Betroffenen ersticken qualvoll. VX zählt ebenfalls zu den Nervenkampfstoffen. Es wirkt langsamer als Sarin, ist aber rund hundertmal giftiger.

Senfgas dringt innerhalb von Minuten durch Kleidung und Haut in den Körper ein und zerstört die Zellen. Das Hautgift führt zu erhöhtem Krebsrisko sowie Schäden an Nerven und am Herzkreislauf-System.

Die syrische Regierung hat die Chemiewaffenkonvention von 1992 nicht unterzeichnet, welche Einsatz, Herstellung und Lagerung von chemischen Kampfstoffen untersagt. Experten der NGO Global Security haben vier mutmaßliche Produktionsstätten ausgemacht: nördlich von Damaskus und nahe der Industriestadt Homs sowie in Hama. Eine vierte Stätte soll sich in der Hafenstadt Latakia am Mittelmeer befinden.