Michael Chalupka, Direktor der Diakonie Österreich, über das Projekt AmberMed, das Menschen, die nicht krankenversichert sind, medizinische Versorgung anbietet. Unter den neuen Patienten sind auch viele Flüchtlinge.
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Einer Erhebung der Armutskonferenz zufolge sind in Österreich mehr als 100.000 Menschen nicht krankenversichert. Ein Kooperationsprojekt der Diakonie Österreich und des Roten Kreuzes versucht hier, Abhilfe zu schaffen. Bei AmberMed, einem Netzwerk von Ärzten, Übersetzern und Sozialarbeitern, werden auch Menschen ohne E-Card behandelt. Unter den neuen Patienten sind nun auch viele Flüchtlinge.
"Wiener Zeitung": Wieso gibt es das Projekt AmberMed?Michael Chalupka: AmberMed ist aus der Flüchtlingsarbeit entstanden. Bevor die Grundversorgung kam, waren Asylwerber noch nicht versichert. Es wird von mehr als 70 Ärzten getragen, die unentgeltlich Patienten behandeln. Das Projekt ist aber auch nach Einführung der Grundversorgung weitergegangen, weil es eine starke Nachfrage gab von Menschen ohne Versicherung, Asylwerbern, ehemaligen Asylwerbern und anderen, die in einem Schatten leben und hier nicht offiziell aufhältig sind. Wir glauben, dass diese Arbeit wichtig ist, denn Medizin muss einfach jeden erreichen.
Wie finanzieren Sie sich?
Trotz der Freiwilligenarbeit der Ärzte ist es sehr schwierig, Dolmetscher, Koordinatoren und Sozialarbeiter zu finanzieren, weil das Projekt in kein System passt. Wir sind immer auf Spenden angewiesen. Gerade in einer Situation wie jetzt, wo sehr viele Leute in Österreich sind, die zum Teil noch nicht im System sind oder aus dem System rausfallen, weil sie von woanders nach Wien kommen, sind Spenden umso dringender notwendig.
Wie haben sich die Patientenzahlen entwickelt? Kommen durch die Flüchtlingskrise spürbar mehr Leute zu Ihnen?
Wir haben bereits im Vorjahr, also vor den Flüchtlingen, die jetzt in Österreich Zuflucht suchen, eine Verdoppelung der Zahlen bemerkt, weil auch die Krise mehr Notwendigkeit für das Projekt geschaffen hat. Es gehört zum Konzept, dass wir keine kontrollierende Stelle sind, sondern dass die Menschen medizinische Versorgung bekommen, ohne dass gefragt wird, warum sie diese brauchen.
Eine Ausnahme sind Menschen, die aus dem Sozialversicherungssystem herausgefallen sind. Das können zum Beispiel auch Studenten sein, die vergessen haben, sich weiter zu versichern. Diese Menschen versuchen wir zu begleiten, damit sie den Weg ins Sozialversicherungssystem zurückfinden.
Ist die Verteilung der Krankheitsbilder gleich wie beim durchschnittlichen Versicherten oder sehen Sie bestimmte Armutskrankenbilder?
Unsere Patienten kommen sehr spät, weil es eine große Scheu gibt, ohne E-Card zu einem Arzt zu gehen. Krankheitsbilder sind also oft in einer Art ausgeprägt, die man sonst nicht sieht. Auch bringen Patienten Behinderungen mit, die es bei uns so nicht mehr gibt, weil wir Frühförderung und Frühinterventionen haben. Wenn Menschen aus Gebieten zu uns kommen, in denen es diese Versorgung nicht gibt, dann sehen wir Dinge, die wir so nicht kennen.
Ein heikler Punkt ist auch die psychologische Betreuung, die selbst in Österreich oft als gewisser Luxus angesehen wird. Sehen Sie viele Patienten, die unter Traumata leiden?
Traumatische Erkrankungen sind unter Flüchtlingen und Migranten, mit denen wir arbeiten, sehr häufig. Die Trauma-Therapie ist aber kein Spezialgebiet von AmberMed, da gibt es andere, wie etwa in Wien Hamayat, und auch von der Diakonie gibt es separate Strukturen dafür. Die Trauma-Therapie gibt es aber allgemein viel zu wenig, und sie wäre viel mehr notwendig, besonders in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
Wenn man für AmberMed spendet, was finanziert man damit?
Der Hauptgrund, aus dem Menschen zu uns kommen, wenn sie nicht versichert sind, oder auch manchmal, wenn sie versichert sind, sind die Dolmetschkosten. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man krank ist und sich dem Arzt nicht mitteilen kann. AmberMed zeichnet sich auch dadurch aus, dass wir ein Dolmetschernetz für fast alle Sprachen haben, die notwendig sind. Was auch wichtig ist, ist die sozialarbeiterische Betreuung, denn meist haben Menschen ja nicht nur eine Krankheit, sondern die Krankheit ist die Folge der Wohnsituation und so weiter. Was natürlich auch Kosten verursacht, ist die Ausstattung der Ordination. Medikamente werden allerdings vom Medikamentendepot des Roten Kreuzes gestellt.
In der Flüchtlingskrise gibt es momentan eine unglaubliche Sichtbarkeit der österreichischen Zivilgesellschaft. Menschen spenden, sodass es an manchen Stellen fast zu viel ist. Hätten Sie damit gerechnet?
Ich habe immer an das Potenzial geglaubt. Wir kennen das auch aus der Vergangenheit, wenn wir für "Nachbar in Not" zum Spenden aufrufen. Dass das jetzt so massiv geschieht, halte ich für eine Reaktion auf das Versagen offizieller Strukturen. Es ist eine Art Trotzreaktion darauf, dass diese Hilfsbereitschaft lange nicht nur nicht gefördert und abgerufen wurde, sondern auch ein bisschen skeptisch beäugt wurde. Die Menschen wollen selbst mitgestalten.
Sehen Sie das als Zukunftschance?
Ja. Dass Dinge wie Traiskirchen und die Flüchtlingsnotsituation seit 2014 so schiefgelaufen sind, hat den Grund, dass man geglaubt hat, der Lage mit polizeilichen Sicherheitsstrukturen des Innenministeriums Herr werden zu können. Aber es ist auch eine zivilgesellschaftliche Aufgabe. Was mich verwundert, ist, dass das sonst überall klar ist. Wenn die Flüsse übergehen, ist es selbstverständlich, dass die Feuerwehr, das Rote Kreuz, die Vereine und alle anderen zusammenhelfen, wo Not am Mann ist. Nur in diesem Fall gibt es so viel Widerstand, und es hieß: Mischt euch nicht ein, wir wissen schon, wie das geht. Das hat nicht funktioniert und kann auch gar nicht funktionieren.