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Staubsaugen, Plaudern und Kochen für Kost und Logis. | Gesamter Besitz passt in einen Trolley. | "Habe gigantische Freiheit gewonnen."
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München/Wien. Das Sommerkleid und die Sandalen will Heidemarie Schwermer noch für einige Wochen in ihrem winzigen Trolley lassen. Dann werden sie einer Winterjacke und dicken Stiefeln weichen müssen - und Kleid und Sandalen werden verschenkt. Mehr als den Inhalt des Trolleys und das, was sie am Körper trägt, besitzt die 69-Jährige nicht. Eine Obdachlose eben, werden viele sagen, die keine Arbeit hat und auf der Straße schläft. Doch weit gefehlt. Schwermer ist eine Visionärin. Sie verzichtet bewusst auf Geld - und das seit 15 Jahren.
Seitdem fühlt sie sich nicht ärmer, sondern um vieles reicher, sagt sie. "Ich habe nichts verloren. Dass ich keine Wohnung, keinen Besitz habe, stört mich nicht - ich bin überall zu Hause", meint Schwermer zur "Wiener Zeitung". Gewonnen habe sie hingegen sehr viel, etwas, das sich mit Geld nicht aufwiegen lässt: "Eine gigantische Freiheit und die Zeit, neue Erkenntnisse zu sammeln." Diese Lebensfreude spiegelt sich in ihrem Äußeren wider: strahlende Augen, blonder Kurzhaarschnitt und gepflegte Kleidung.
Doch ist ein Leben ohne Geld überhaupt möglich? Und wenn ja - wie? "Ich habe einen großen Freundeskreis, jeden Tag kommt jemand dazu. Die Menschen laden mich ein, wir plaudern und kochen zusammen. Manchmal sauge ich die Wohnung oder passe auf die Kinder auf. Oder ich hüte leere Häuser, während die Besitzer auf Urlaub sind. Wir sind wie eine große Familie", so Schwermer.
Ein Leben also, das auf Tauschen von Dienstleistungen gegen Kost und Logis beruht. Mitunter tauscht Schwermer ihre Mithilfe im Haushalt auch gegen einen Haarschnitt ein. Geld lehnt sie kategorisch ab. Vorträge über ihren Lebenswandel, die sich allmählich summieren, lässt sie sich daher in Wertkarten für ihr (geschenktes) Handy oder Bahnkarten bezahlen. Denn Schwermers Freundeskreis erstreckt sich mittlerweile über Deutschland - ihre ursprüngliche Heimat -, Österreich und Italien bis nach Norwegen. In einer Wohnung bleibt sie nie länger als eine Woche. Österreich besucht sie am häufigsten, um in Innsbruck und Wien die Kost-Nix-Läden und in der Westbahnstraße in Neubau den öffentlich zugänglichen Bücherschrank aufzusuchen.
Pension wird verschenkt
Ihrem Lebensmotto folgend hat Schwermer auch ihre Pension, die ihr für ihre früheren Tätigkeiten als Lehrerin und Psychotherapeutin zusteht, jahrelang abgelehnt. Seit einigen Jahren nimmt sie sie allerdings an - um sie zu verschenken. "An Menschen, die Geld brauchen oder darum bitten." Mitunter auch an Wildfremde, denen sie beim Vorbeigehen 100 oder 200 Euro in die Hand drückt.
Über die Pension ist Schwermer nun auch versichert. Sicherer fühlt sie sich dadurch aber nicht. "Ich lebte elf Jahre lang ohne staatliches Sicherheitsnetz, und auch jetzt brauche ich es nicht. Ich gehe nie zum Arzt", meint sie knapp.
Ganz ohne Angst lebt Schwermer jedoch nicht. Vor allem am Anfang - vor 15 Jahren - fürchtete sie, keine Übernachtungsmöglichkeit zu finden. Bis heute hat sie allerdings kein einziges Mal auf der Straße schlafen müssen. Und wenn sie Hunger hatte, klingelte das Telefon, weil eine Freundin sie zum Essen einladen wollte. Situationen wie diese stärkten ihr "Vertrauen in den Lebensfluss", Schwermers Geheimrezept zum Glücklichsein.
Nur eines störe diesen Lebensfluss: das Geld und die Gier, die Menschen trennen. "Wir brauchen ein komplett anderes System", ist Schwermer überzeugt, "in dem es kein Geld gibt." Freilich sei es nicht damit getan, jedem sein Geld einfach wegzunehmen. Die Menschheit müsse vielmehr einen Bewusstseinssprung machen "und sich auf sich selbst besinnen".
Diese Gedanken hat Schwermer in zwei Büchern niedergeschrieben, das dritte ist in Arbeit. Mit Konsumzwang beschäftigte sie sich schon früher, als sie noch in Dortmund arbeitete und den Tauschring "Gib und Nimm" gründete. Als Freunde sie baten, die Wohnung zu hüten, während sie auf Urlaub waren, kam Schwermer die Idee zu ihrem heutigen Lebenswandel. Und fand sich schließlich in ihre Kindheit zurückversetzt, als sie im Zweiten Weltkrieg als Flüchtlingskind - als "Lumpenpack", wie sie es nennt - aus Ostpreußen nach Deutschland flüchtete. "Als heimatloser Mensch mit wenig Geld wird man behandelt, als wäre man nichts wert", erzählt sie - und machte den Kampf dagegen zum Lebensthema.
Keine "Schnorrerin"
Ihre zwei Kinder und ihr Mann, von dem sie heute geschieden ist, waren schockiert. Mittlerweile haben sie es akzeptiert, so Schwermer. Traurig macht es sie, wenn sie Menschen als "Schnorrerin" oder "Sandlerin" bezeichnen. "Ich sehe sie als Freundin", meint Pea Krämer aus Hameln in Deutschland dazu, die Schwermer seit fünf Jahren wochenweise beherbergt und über eines ihrer Bücher auf sie gestoßen ist. "Sie ruft an, wenn sie kommt", sagt die Therapeutin. Dann stehen abendfüllende Diskussionen über ein Leben ohne Geld auf dem Programm. "Eine Bereicherung", wie Krämer meint. Dass Schwermers Vision umsetzbar ist, bezweifelt sie - dass die Welt an ihrer Gier zugrunde gehen wird, hingegen nicht.