Land vor dem Staatsbankrott: Griechen machen sich keine Illusionen mehr.
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Athen. Noch stemmen sich die Griechen gegen das bittere Ende, das jetzt unaufhaltsam scheint: Alle Fähren standen am Dienstag still, die Athener U-Bahn war außer Betrieb, ebenso die Busse. Tausende protestierten einmal mehr gegen die Sparpolitik der Regierung. Anlass war diesmal Besuch von Prüfern der EU, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds. Die Wirtschaftsexperten untersuchen, ob Griechenland die Sparvorgaben einhält - bevor sie weitere Lohnkürzungen und Einschnitte im Sozialbereich verlangen. "Wir hingegen wollen, dass die Sparmaßnahmen ausgesetzt werden, dass die Gesetze abgeschafft werden, die unsere Rechte einschränken und Arbeiter in Sklaven verwandeln", setzt dem - fast trotzig - die griechische Gewerkschaft entgegen.
"Land im freien Fall"
Doch immer mehr Ökonomen haben keine Hoffnung mehr, dass der Ruin noch irgendwie aufzuhalten wäre. "Griechenland ist im freien Fall", sagt der deutsche "Wirtschaftsweise" Peter Bofinger. Der Internationale Währungsfonds glaubt laut "Spiegel" auch nicht mehr daran, dass der Bankrott mit den derzeit gesetzten Maßnahmen aufzuhalten ist. Die Ratingagentur Standard & Poor’s sieht die griechische Totalpleite zum Greifen nahe, auch Fitch gibt den Hellenen keine Chance mehr auf ein Happy End.
Viele Griechen sind wütend, demonstrieren im Zentrum von Athen, fordern einen Stopp der Einsparungen. Doch die Mehrheit macht sich keine Illusionen mehr, kaum jemand bezweifelt, dass das Land schnurstracks auf eine Katastrophe zusteuert. Die Bereitschaft, Lohnkürzungen und Einschnitte im Sozialbereich zu akzeptieren, nimmt zu.
Die Industrieproduktion sinkt unterdessen weiter, die Umsätze im Handel gehen zurück. Griechenland steht 2012 das fünfte Rezessionsjahr in Folge bevor. Die Arbeitslosigkeit steuert die Marke von 20 Prozent an, im Vorjahr haben rund 320.000 Menschen ihren Job verloren. Bei der Jugendarbeitslosigkeit liegt Griechenland mit einem Wert von 46,6 Prozent in Spitzenfeld der EU. Wegen der sinkenden Wirtschaftsleistungen gehen die Steuereinnahmen zurück, von Budgetsanierung kenn so keine Rede sein.
Griechenland droht in der Depression zu versinken. 85 Prozent der Bevölkerung sind laut Umfrage mit ihrem Leben unzufrieden, 91 Prozent haben konkret Angst vor der neuen sozialen Unsicherheit. Viele stellen die Frage, wie lange eine derart demoralisierte Gesellschaft durchzuhalten vermag. Bei den staatlichen Stellen zur Suizid-Prävention laufen die Drähte heiß, die Zahl der Anrufer hat sich erhöht, heißt es, die Nation sei in einem emotionalen Schock, berichtet ein Psychologe.
Unterdessen sinkt die Bereitschaft, sich gegen das scheinbar Unausweichliche zur Wehr zu setzen. Immer mehr Griechen sind überzeugt, dass Strukturreformen nötig sind. Ausländer, die schon lange in Griechenland wohnen, beobachten eine Zunahme der Ellbogen-Mentalität. Jeder, der noch kann, kümmert sich jetzt um sich selber, heißt es.
Zu stolz für Almosen
Eine wachsende Zahl an Griechen ist plötzlich auf die Barmherzigkeit der Kirche angewiesen. 250.000 Menschen pilgern regelmäßig zu den Suppenküchen der orthodoxen Geistlichkeit. Während diese Einrichtungen früher hauptsächlich von illegal im Land lebenden Ausländern genutzt wurden, stehen jetzt immer mehr Griechen vor den Ausgabezentren und warten auf eine warme Mahlzeit. Oft würden die Menschen zwar unter Hunger leiden, wären aber zu stolz, um eine Mahlzeit zu erbeten, berichtet ein Sozialarbeiter. In den griechischen Supermärkten wird abgelaufenes Brot oft nicht mehr weggeworfen sondern für die Bedürftigen gesammelt. In wenigen Tagen kamen zuletzt 150 Tonnen Lebensmittel zusammen. TV-Kamerateams, die die Not filmen wollen, werden von denen, die sich gedemütigt fühlen, vertrieben. Grundschullehrer berichten von Kindern, die ohne Frühstück und Pausenbrot in Klasse kämen. Fallweise sind schon Babys von Mangelernährung betroffen, rund 200 Fälle sind bis jetzt bekannt geworden.
Insgesamt 4,3 Prozent der griechischen Bevölkerung haben laut der Statistikbehörde Elstat keinen Zugang mehr zu regelmäßigen Mahlzeiten. 544.800 Menschen leben in Haushalten ohne einen Euro Einkommen. Das deshalb, weil man in Griechenland nur ein Jahr Arbeitslosengeld bekommt - monatlich knapp 500 Euro -, danach gibt es für viele nichts mehr. Die Einbrüche nehmen zu, immer öfter räumen die Täter jetzt auch die Kühlschränke leer, ganze Obst-Plantagen werden über Nacht abgeerntet. Die, die auf der sozialen Leiter ganz unten stehen - illegale Migranten -, haben unter diesen Vorzeichen überhaupt keine Chance mehr, Arbeit zu finden. Früher wurden sie gelegentlich für Tagelöhner-Jobs angeheuert, um diese Tätigkeiten prügeln sich jetzt Griechen. Migrantinnen müssen sich immer öfter mit Prostitution über Wasser halten. Die Zahl der HIV-Infizierten nimmt zu, auch unter Griechen, denn der Drogenkonsum nimmt zu.
"Neues Profil der Armut"
Viele Wohnungen bleiben ungeheizt, die Menschen harren bei Temperaturen von 11 Grad aus. Sie können sich noch glücklich schätzen, denn die Zahl der Obdachlosen ist im Jahr 2011 um 20 Prozent gestiegen. Dabei sind es nicht mehr nur Süchtige und psychisch Kranke, die die Straßen bevölkern. "Das Profil der Armut hat sich verändert", so die Sozialarbeiterin Athensia Tourkou. Mittlerweile seien es gut ausgebildete Leute, die bis vor wenigen Monaten noch einen Job und sogar ein Haus gehabt haben, die auf der Straße landeten. Vorbei sind auch die Zeiten, als man wenigstens zu Weihnachten aus dem Vollen schöpfen konnte. Die Umsätze des Einzelhandels sind vor dem Fest im Vergleich zum Vorjahr um 30 Prozent eingebrochen, neun von zehn Griechen hätten aus Not weniger ausgegeben als im Vorjahr, heißt es.
Wenn die Wirtschaft lahmt, die Arbeitslosigkeit steigt und Hoffnungslosigkeit um sich greift, kommt auch das öffentliche Leben langsam zum Erliegen. Noch herrscht Lärm auf den Straßen, doch auch das wird bald anders sein. Bis Jahresende haben mehr als 250.000 Autobesitzer ihre Vehikel abgemeldet, laut Verkehrsministerium wurden bereits 2010 170.000 Nummerntafeln zurückgegeben. Noch handelt es sich vor allem um Zweitautos, bald werden viele griechische Familien überhaupt nicht mehr motorisiert sein.
Wie lange die Gesundheitsversorgung noch funktioniert, steht in den Sternen. Viele Pharmazeuten warnen, dass es Tabletten bald nur noch gegen Bargeld geben wird. Die Zahlungen der Krankenkassen würden verspätet oder gar nicht mehr einlangen, klagen die Apotheker. Die Regierung will im Gesundheitswesen - wie überall - massiv sparen. Gegenüber dem Spitzenjahr 2009 mit Ausgaben von 10,6 Milliarden Euro sollen die Ausgaben auf sieben Milliarden Euro reduziert werden.
Mindestlohn "untragbar"
Vor diesem Hintergrund drängen die Kreditgeber Griechenlands auf weitere Sparmaßnahmen. Es soll zusätzliche Kürzungen im privaten Sektor geben, man will die Gehälter um 20 Prozent reduzieren. Auch die 13. und 14. Monatsgehälter sowie der Mindestlohn von 751 Euro sollen abgeschafft werden. Bis zum Jahr 2015 soll es 150.000 Staatsbedienstete weniger geben, die Privatisierung von öffentlichem Eigentum läuft auf Hochtouren. Viele Steuern hat die Regierung bereits empfindlich erhöht, zahllose gestiegene Gebühren, wie etwa bei der Autobahn-Maut, treffen den Durchschnitts-Griechen finanziell ins Mark.
Doch die Regierung in Athen will, dass die Vorgaben der Europäischen Union umgesetzt werden. Die Zeiten, als man sich gegen die Anweisungen aus dem Ausland zumindest symbolisch zu Wehr gesetzt hat, sind vorbei. "Es geht nicht, dass wir mehr Mindestlohn als Spanien haben. Die Hälfte der anderen EU-Staaten hat gar keinen Mindestlohn", so Regierungssprecher Pantelis Kapsis. "Die anderen Europäer wollen uns 130 Milliarden Euro geben. Da ist es doch logisch, dass sie fordern, dass wir uns anstrengen und mitmachen."