Neuer Verein soll Angst vor Kulturverlust nehmen. | Die Aleviten bekämpfen Vorurteile bei Muslimen wie auch Nicht-Muslimen. | Wien. Sie tragen kein Kopftuch, trinken Alkohol und beißen schon einmal in eine Salami. Das führt bei ihren Mitmenschen immer wieder zu Irritation und zu der Frage: "Bist du nicht Moslem?" Den alevitischen Jugendlichen reicht’s. "Wir haben es satt, uns ständig zu rechtfertigen, indem wir uns von gängigen Klischees gegenüber Moslems distanzieren", sagte Alev Cakir. Sie ist im kürzlich gegründeten Team der Alevitischen Jugend Wien (AJW), das sich vergangenen Sonntag beim Gründungsfest in der Volkshochschule im zwölften Wiener Gemeindebezirk vorstellte.
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Das Fest, das von der Föderation der Aleviten Gemeinden in Österreich organisiert wurde, ließ in äußerer Erscheinung kaum an eine Glaubensgemeinschaft denken. Die Besucher wurden mit Live-Musik, Geigenklang und Sekt empfangen. "Wir verzichteten absichtlich auf religiöse Motive und Sazmusik", erklärte Derya Aybay vom AJW-Vorstand.
Lediglich ein großes Poster des Alevitenführers Ali, dem Schwiegersohn des Propheten Mohammed, zierte das Podium. Anfangs wurde ein Video über Geschichte, Kultur und aktuelle Situation der Aleviten abgespielt. "Wir wollen den alevitischen Jugendlichen zu mehr Selbstbewusstsein verhelfen", betonte Aybay. "Sie sollen die Grundsätze des Alevitentums - nämlich Weltoffenheit, Toleranz und Naturverbundenheit - lernen um sich mit erhobenem Kopf gegen Anfeindungen zu wehren."
Tatsächlich werden Aleviten immer wieder mit Vorurteilen konfrontiert. "Mich fragte einmal eine Klassenkameradin, ob wir Inzest betreiben", erzählte Ragibe (21), eine Studentin aus der Türkei. Vorurteile und Verschwörungen wie diese führten schon im Osmanischen Reich und in der türkischen Republik zu Pogromen gegen Aleviten. "Als Alevit ist man ohnmächtig gegen diese abscheulichen Anschuldigungen. Nur weil es bei unseren Versammlungen keine Geschlechtertrennungen gibt und alle miteinander tanzen und lachen oder auch beten, versuchen strenggläubige Sunniten uns schlechtzumachen. Das Schlimmste ist, dass sie das ihren Kindern weitergeben", ist Ragibe bestürzt.
In den alevitischen Versammlungshäusern, genannt Cem evi, gibt es keine getrennten Räume für Männer und Frauen. Ebenso fehlen Vorschriften, wie, wann und wo Aleviten zu beten haben. Der Koran stellt für sie kein Gesetzesbuch dar, sondern ein Religionsbuch. Wenn es nach dem Team der AJW geht, steht die Philosophie des Alevitentums über deren Religiosität.
Auf die Streitfrage, ob Aleviten nun Muslime sind oder eine eigene Religion, will das junge Team bewusst nicht eingehen: "Das überlassen wir dem Einzelnen. Wir sagen niemandem, was er zu sein hat", erklärt Cakir. "Jeder soll sich willkommen und zugehörig fühlen. Das ist auch ein Grundsatz der alevitischen Glaubenslehre, die keine Klassifizierung und Wertung der Menschen kennt."
"Wir kennen keine Dogmen"
Cakir studiert Politikwissenschaft an der Uni Innsbruck und ist zurzeit Studienassistentin. Sie schreibt gerade eine wissenschaftliche Arbeit über das Alevitentum: "Wenn man vom Islam spricht, ruft das negative Gefühle hervor, weil man automatisch an Gebote und Verbote denkt. Wir Aleviten glauben nicht an einen bösen, alten Mann, der irgendwo da oben sitzt und eifersüchtig oder böse sein kann. Für uns existiert kein abstraktes Gottesbild und wir kennen keine Dogmen. Wie sagte doch schon Pir Haci Bektas, einer der wichtigen Geistlichen der anatolischen Aleviten: Was du suchst, das suche in dir."
Nach österreichischem Gesetz sind die Aleviten eine anerkannte Bekenntnisgemeinschaft und nochkeine Religionsgemeinschaft, womit sie von Privilegien, wie einem staatlich geförderten Religionsunterricht an heimischen Schulen, ausgeschlossen sind. Obwohl alevitischer Religionsunterricht kein angestrebtes Ziel der Aleviten zu sein scheint, ist von einer Beantragung als Glaubensgemeinschaft und somit offiziellen Vertretung der geschätzten 60.000 Aleviten die Rede.
"Was das betrifft, sind deutsche Bundesländer wie Berlin Österreich voraus", so Aybay, die Rechtswissenschaften an der Uni Wien studiert. "Dort kann alevitischer Religionsunterricht beantragt werden, wenn sich genug Interessenten finden." Aybay zieht einen Ethikunterricht aber einem Religionsunterricht vor: "Trotzdem wäre es fair, wenn wir zumindest die Möglichkeit auf eigenen Unterricht hätten." Freilich ist Österreich das erste Land der Europäischen Union, das die Aleviten bundesweit anerkannt hat. Die Türkei hinkt noch hinterher.
Die AJW will Jugendliche bei sozialen, schulischen und beruflichen Problemen begleiten. Auch Seminare gegen Diskriminierung sind geplant, die für Rassismus im Alltag und Homosexualität sensibilisieren. Die religiöse Komponente ist dabei für das junge Team zweitrangig. Veranstaltungen, Kurse und Ausflüge sollen ein neues Bewusstsein unter jungen Leuten schaffen und damit die Angst vor Kulturverlust nehmen, die vor allem Migranten der älteren Generationen hegen.