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Der Leiter des Münchner Ifo-Instituts, der Ökonom Clemens Fuest, über das Verhältnis von Risikoteilung und Haushaltsdisziplin.
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"Wiener Zeitung":Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wartet auf die Regierungsbildung in Deutschland, damit er endlich seine Reformvorhaben für die Eurozone vorantreiben kann. Aber haben die zwei Länder nicht allzu unterschiedliche Ansätze dafür?
Clemens Fuest: Sie haben unterschiedliche Vorstellungen von Wirtschaftspolitik. In Deutschland wurden Regeln immer sehr stark betont und die Unabhängigkeit von Institutionen. Die deutsche Nachkriegsgeschichte ist eng verbunden mit der Bundesbank und der Erfahrung, dass eine unabhängige und stabilitätsorientierte Geldpolitik die Grundlage des Wohlstands bildet. Insofern gibt es in Deutschland ein gewisses Misstrauen gegenüber der Politik und Ad-hoc-Entscheidungen.
In Frankreich hingegen gibt es eher die Erfahrung, dass eine Regierung in Krisen Handlungsspielraum braucht und dass man sich nicht so sehr im Vorhinein mit Regeln binden sollte. Es existiert auch eine starke Vorstellung von Souveränität: Dass die staatliche Finanzpolitik dem Druck von Märkten ausgesetzt ist und dass etwa ein Staat in die Insolvenz geschickt wird, ist dort schwer zu akzeptieren. Daher wird also in Deutschland die Marktdisziplin eher positiv gesehen und in Frankreich sehr skeptisch. Dort wird vielmehr die Risikoteilung betont, was wiederum in Deutschland schnell Befürchtungen auslöst, dass dies zu politischem Leichtsinn führt.
Diese unterschiedlichen Ansätze haben auch die Debatte um die Rettung Griechenlands geprägt, in der die Sparvorgaben teils stark kritisiert wurden. Wie sehr hat die Schuldenkrise die Gräben zwischen den Eurostaaten weiter vertieft?
Es geht nicht nur um ideologische Differenzen, um die Vorstellungen von Wirtschaftspolitik. Das andere sind handfeste Interessenunterschiede. Frankreich hat stärkere Verbindungen zu Südeuropa und sieht sich als dessen Anwalt. Diese Unterschiede waren bei der Gründung der Währungsunion noch theoretisch: Die typisch deutsche Position war, die Schuldenregeln im Vertrag von Maastricht zu konkretisieren und sich zu überlegen, wie diese Regeln umgesetzt werden können. In Frankreich war eher der Zugang, sich nicht allzu lang damit zu beschäftigen und nicht allzu sehr durch Regeln binden zu lassen.
Mit der Eurozone hat die Theorie Gestalt angenommen, und es kam die praktische Anwendung. Noch stärker zeigte sich das in der Eurokrise. Aber auch da hat es immer wieder Versuche gegeben, eine gemeinsame Position zu finden. So nahmen sich Deutschland und Frankreich 2011 beim Gipfel von Deauville vor, die No-bailout-Klausel anzuwenden, also nicht für überschuldete Mitgliedstaaten zu haften. In Deutschland wurde dies begrüßt, in anderen Ländern - auch Frankreich - gab es Einwände, weil das als Auslöser für den Vertrauensverlust an den Kapitalmärkten gesehen wurde. Das war aber beabsichtigt: Wenn jemand den Gläubigern sagt, dass er nicht die Schulden Griechenlands oder Italiens zahlen wird, dann werden die Märkte zumindest nervös.
Kann der viel beschworene deutsch-französische Motor dennoch wieder anspringen? Was kann er in Bewegung setzen?
Ich bin überzeugt, dass er wieder anspringen kann. Allerdings besteht eine gewisse Gefahr, dass dabei eine Minimallösung, nur etwas Symbolisches herauskommt. Es gibt zwar auf beiden Seiten den Wunsch, die Fähigkeit zur Zusammenarbeit unter Beweis zu stellen, aber es könnte bei kleinen Schritten bleiben. Das könnte zum Beispiel die Etablierung eines Investitionshaushalts mit ein paar Milliarden Euro sein, der dem EU-Budget zur Seite gestellt wird. Oder die Ernennung einer Person zum europäischen Finanzminister. Solche Schritte würden aus meiner Sicht aber Europa mehr schaden als nutzen, weil sie hohe Erwartungen wecken und dann zu Enttäuschungen führen. Was soll ein Finanzminister ausrichten, der nicht demokratisch legitimiert ist und kein Parlament mit einem Budgetrecht hinter sich hat?
In einem Expertenpapier, das Sie gemeinsam mit anderen deutschen und französischen Ökonomen verfasst haben, plädieren Sie doch selbst für die Etablierung eines Euro-Kommissars, der gleichzeitig die Gruppe der Euro-Finanzminister leiten könnte. Wo ist da der Unterschied?
Wir sagen deutlich, dass die Verantwortung für die Finanzpolitik auf nationaler Ebene liegt. Daraus folgt ein weiterer wesentlicher Punkt: Auch die Haftung ist national. Diese Vorstellung ist eine andere als die, dass Europa kontrolliert und die Haftung eine gemeinsame ist. Die Entscheidungen über Schulden und die Höhe von Steuern fallen aber in den einzelnen Staaten und unterliegen demokratischer Kontrolle. Politische Debatten finden nun einmal auf nationaler Ebene statt.
Muss das so bleiben?
Es wird unweigerlich so bleiben. Es ist ein Faktum, um das wir nicht herumkommen. Es sind über Jahrhunderte gewachsene Strukturen, die nicht von einem Tag auf den anderen abgeschafft werden können. Selbstverständlich ist es möglich, sich auf europäischer Ebene abzusprechen, weil gemeinsame Institutionen auch notwendig sind. Aber die Hauptverantwortung liegt bei den Nationalstaaten. Die Herausforderung liegt genau darin, zu einer stabilen Währungsunion zu kommen, obwohl es keine Zentralregierung gibt.
Es gab und gibt dennoch die Vision, die Währungsunion zu einer politischen Union auszubauen.
Auch das ist eine Lehre aus der Krise: Die Idee, wir könnten Europa politisch über den Euro einen, ist gescheitert. Wir haben aber die gemeinsame Währung, und sie zu stabilisieren, ist nun das Ziel. Weitere Schritte zu einer politischen Union müssen von der Politik kommen, etwa über die Schaffung einer gemeinsamen Armee. Idealerweise erfolgt die Verlagerung von Souveränität in Bereichen, die auf zentraler Ebene tatsächlich besser aufgehoben sind, wie in der Sicherheitspolitik.
Warum passt der Euro-Kommissar oder -Finanzminister nicht in dieses Bild?
Sie bewegen sich auf unterschiedlichen Ebenen. Der Begriff "Finanzminister" suggeriert, dass dieser die Finanzpolitik in Europa bestimmt. Das ist aber nicht so. Der Euro-Kommissar hingegen hätte eine Koordinationsrolle. Wir haben auf europäischer Ebene schon viele Koordinationsverfahren und auch eine Beaufsichtigung der nationalen Politiken, aber die Koordination muss erstens stärker national verankert werden - etwa durch nationale Fiskalräte - und zweitens müssen wir im europäischen Verfahren die Funktionen von Ankläger und Richter stärker trennen. Die Frage, wer die Regeln verletzt hat, ist keine politische, sondern eine Faktenfrage. Wir brauchen eine unabhängige Institution, die das feststellt. Das ist sozusagen der Ankläger. Das könnte ein Euro-Kommissar sein, oder, was mir persönlich lieber wäre, eine von der Kommission unabhängige Einrichtung. Und dann muss politisch entschieden werden, was aus der Regelverletzung folgt. Das wäre der Richter. Das könnte der Europäische Rat, das Gremium der Länder, übernehmen.
In dem gemeinsamen Papier schlagen Sie ebenfalls die Schaffung eines Fonds vor, den die Länder für den Krisenfall vorbereiten sollen. Ist das ein neuer Name für die alte Idee von einem Eurozonen-Budget?
Es ist eine Art Versicherung mit Selbstbeteiligung. Wir wollen damit kein neues Tor für Schulden öffnen, sondern eine Vorsorge gegen große Krisen schaffen. Der Unterschied zu vielen Vorstellungen vom Euro-Budget ist: Der Topf ist nicht dazu da, um jedes Jahr Geld auszugeben, sondern es anzusparen, bis zu einem gewissen Betrag. Wenn ein Land eine schwere Krise hat, zum Beispiel, wenn die Arbeitslosenquote um mehrere Prozentpunkte steigt, dann bekommt es eine einmalige Zahlung aus dem Fonds.
Warum sollten die Länder zusätzliche Mittel zur Verfügung stellen?
Aus dem gleichen Grund, warum eine Versicherung abgeschlossen wird. Außerdem brauchen wir Lösungen, die für alle Mitgliedstaaten akzeptabel sind. Deutschland wünscht sich funktionierende Insolvenzverfahren für Staaten und Banken, bei denen die Gläubiger haften, nicht die Steuerzahler. Das ist das Element der Marktdisziplin. Aber warum sollte Italien dem zustimmen? Weil das Reformpaket gleichzeitig Elemente der Risikoteilung bringt. Hinzu kommt, dass begrenzte Risikoteilung mehr Haftung erleichtert. Wenn es zu einer schweren Krise in einem Mitgliedstaat kommt, es jedoch ein Sicherheitsnetz gibt, dann ist wahrscheinlicher, dass Gläubigerhaftung durchgesetzt werden kann. Es wird oft als Gegensatz dargestellt: Die einen wollen Disziplin, die anderen Solidarität. Aber das eine funktioniert ohne das andere nicht. Allerdings muss man auf beides bestehen. Ich nenne es das Euro-Junktim: keinerlei Schritte zu mehr Risikoteilung ohne weitere Schritte zu Marktdisziplin.
Wie viel Geld sollte in diesen Topf fließen?
Es wären relativ kleine Beiträge. Möglich wäre es, eine Summe in Höhe von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Eurozone anzusparen. Jedes Land würde 0,1 Prozent pro Jahr beitragen - bis der Topf aufgefüllt ist. Für Deutschland wären das gut drei Milliarden Euro, für Österreich 400 Millionen Euro pro Jahr. Als Zielgröße für die gesamte Eurozone sind 100 Milliarden Euro vorstellbar. Wenn ein Land Mittel aus dem Fonds in Anspruch nimmt, muss es später höhere Beiträge zahlen.
Sie sehen es trotzdem als Fehler an, dass Deutschland bereit ist, mehr für die EU zu zahlen, wie aus den Sondierungsvereinbarungen zwischen Christ- und Sozialdemokraten hervorgeht...
Wenn die Regierung vorprescht und ohne Not anbietet, mehr zu zahlen, dann verstößt sie damit krass gegen deutsche und europäische Interessen. Das hat nur die Wirkung, dass andere sagen: Wir zahlen weniger. Außerdem entfällt der Druck zu prüfen, ob wir vorhandene Mittel besser einsetzen können. Die intelligentere Variante wäre, erst zu überlegen, ob das vorhandene Geld nicht besser ausgegeben werden kann. Derzeit gibt es im EU-Haushalt Ausgaben, die nicht sinnvoll sind. Erst wenn das reformiert wird, könnten wir darüber reden, ob nicht alle dazu gebracht werden sollten, mehr beizutragen.
Zur Person:
Clemens Fuest ist seit April 2016 Präsident des Ifo-Wirtschaftsforschungsinstituts. Er ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München.