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"Ohne Tote ginge es Gaza schlechter"

Von Alexander U. Mathé aus Israel

Politik

Arbeitslosigkeit steigt stark an. | Wenige profitieren vom Schmuggel. | Sderot. Roni Kaidar lebt in Netiv HaAsara. Von dort sind es 400 Meter Luftlinie zum Gaza-Streifen - so nah liegt sonst kein anderes israelisches Dorf. Dazwischen stehen allerdings ein Hochspannungszaun und drei Betonwälle, die das von der radikal-islamischen Hamas regierte Palästinensergebiet von Israel trennen. Die Mauer zwischen Israelis und Palästinensern einzureißen, hat sich Roni zur Aufgabe gemacht.


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"Wir wissen alle, dass Gaza ein Gefängnis ist", erklärt Roni. Seit der Operation "Gegossenes Blei" im Jahr 2008 ist der Gaza-Streifen systematisch abgeriegelt - leidtragend ist die dort lebenden Bevölkerung. "Eineinhalb Millionen Menschen, darunter 800.000 Kinder, sind gefangen durch eine unmenschliche und illegale Blockade. Das ist ein humanitäres und ein wirtschaftliches Desaster", erklärte erst am Dienstag der Gaza-Chef des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge, John Ging.

Israel erachtet die Abriegelung als lebensnotwendig. So sei der Schutz vor der als Terrororganisation eingestuften Hamas gewährleistet, die dem jüdischen Staat das Existenzrecht abspricht. Zudem wurden israelische Städte jahrelang vom Gaza-Streifen aus mit Kassam-Raketen beschossen. Doch wer wann und wo angefangen hat, interessiert Roni weniger. Mit ein paar anderen hat sie die Friedensorganisation "Other Voice" gegründet, die sich für die Aussöhnung zwischen Palästinensern und Israelis einsetzt und einigen wenigen Bewohnern des Gaza-Streifens das seltene Privileg zuteil werden lässt, trotz Blockade nach Israel zu kommen.

Ronis Kollege Eric Yellin erinnert sich noch gut an die Zeit, als die Angriffe begonnen haben: "Als die erste Rakete eingeschlagen hat, hätten wir nie gedacht, dass das so weiter geht." Heute, nach endlosen Anschlägen und Gegenschlägen, will Eric nur noch eines: Frieden. "Viele Leute sagen, ich sei naiv. Es gehört aber auch viel Naivität dazu zu glauben, dass Waffen und Raketen eine Lösung bringen."

Mehr Sicherheit

Zu den Leuten, die Eric für naiv halten, gehört wahrscheinlich Avi Melamed. Für den ehemaligen Angehörigen des israelischen Geheimdiensts ist die Blockade des Gaza-Streifens Garant für Israels Sicherheit. Auf einer Erhöhung der Grenzstadt Sderot überblickt er, gleichsam wie auf einem Feldherrnhügel, die Region. Unweit zu erkennen: Die Beobachtungsballone, mit denen Israel jede Bewegung im Gazastreifen genau im Auge behält.

"Bis zum Jahr 2008 hat es mehr als 3000 Raketenangriffe gegeben", sagt Melamed. Seit der Abriegelung lebt Israel so sicher wie selten zuvor. In der Tat haben sich die Angriffe seither drastisch reduziert. Und die unmenschlichen Bedingungen? "Es gibt keine humanitäre Krise in Gaza", erklärt der Sicherheitsberater. Israel liefere billiges Öl, und ein Blick auf die Homepage der Hamas und die dort abgebildeten üppigen Einkaufszentren genüge, um zu sehen, wie gut es dem Gaza-Streifen gehe. Das räumt auch John Ging von der UNO ein: "Die Läden sind wieder voll. Was immer die Leute brauchen, gibt es frei zu kaufen."

Dass sich die Situation im Gaza-Streifen verbessert hat, ist laut Eric der internationalen Flotille mit Hilfsgütern zu verdanken, die im Mai versucht hat, die Blockade zu durchbrechen. Das israelische Militär hat die Flottille aufgebracht, wobei beim Entern der Mavi Marmara mindestens neun Menschen getötet und über vierzig verletzt wurden. Die Folge war ein internationaler Aufschrei, der schließlich eine Lockerung der israelischen Blockade bewirkte. Eric bedauert, dass es soweit kommen musste, doch: "Es hätte nicht denselben Effekt gehabt, wenn niemand bei der Aktion gestorben wäre. Es ist tragisch, es ist zynisch, aber es ist so."

Volle Geschäfte helfen allerdings wenig, wenn man kein Geld hat, sich in ihnen zu bedienen. "Das Problem ist, dass es kein funktionierendes wirtschaftliches System im Gaza-Streifen gibt", sagt Eric. Zudem ist der Export stark eingeschränkt, was die Arbeitslosigkeit ankurble. Vor der Blockade haben laut John Ging noch 70 Prozent ihr Geld selbst verdient. Mittlerweile soll die Arbeitslosigkeit bei mehr als 60 Prozent liegen.

700 aktive Tunnel

Da der Kontakt mit der Außenwelt fast unmöglich ist, hat man im Gaza-Streifen Tunnel gegraben. 600 bis 700 dieser unterirdischen Übergänge zur Außenwelt sind derzeit aktiv. "Das ist ein gutes Geschäft für viele Familien", erklärt Melamed - und für Investoren. Der über die Tunnel - und mit Lizenz der Hamas - betriebene Schmuggel sei nämlich sehr einträglich. Von daher hat die Lockerung der Blockade John Ging zufolge auch für Israel Vorteile. Denn alles, was kontrolliert über die Durchgangsstellen kommt, werde nicht mehr über Tunnel geschmuggelt.

Ob es jemals zu einer Normalisierung zwischen Gaza und Israel kommen wird, steht in den Sternen. "Irgendwann werden wir mit der Hamas reden müssen", sagt Roni, "aber es ist schwer, mit jemandem zu reden, der dein Existenzrecht nicht anerkennt."