Peking - Nein, "ich bin doch kein Diktator", klagte Jiang Zemin unlängst im Gespräch mit einem ausländischen Gast. Der chinesische Staats- und Parteichef, der am Freitag 75 Jahre alt wird, sorgt sich um seinen Platz in der Geschichte. Obwohl schon seit zwölf Jahren an der Spitze, hat sich Jiang vom bloßen Übergangskandidaten zum Hüter der Stabilität gewandelt. Praktische politische Visionen sind von ihm nicht zu hören, doch hat der einstige Fabrikdirektor begonnen, ein ideologisches Erbe zu entwickeln, das ihn überdauern soll.
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Als Jiang am 80. Geburtstag der Kommunistischen Partei am 1. Juli eigenmächtig verkündete, künftig dürften auch private Unternehmer als Mitglieder in die Partei aufgenommen werden, löste er einen Proteststurm der Ultralinken aus. Sie sahen die Partei den "Ausbeutern" und Kapitalisten zum Fraß vorgeworfen. Auch Jiangs neue Ideologie der "Drei Vertretungen", wonach die Partei die modernen Produktivkräfte, die fortschrittliche Kultur und die große Mehrheit des Volkes vertreten soll, wirkt eher wie ein Eingeständnis, dass sich die Partei zu sehr vom Volk entfernt hat.
Im Gegensatz zu den praktischen Auswirkungen der "sozialistischen Marktwirtschaft" des 1997 verstorbenen Deng Xiaoping scheint der Ansatz aber unzeitgemäß ideologisch. Deng war Jiang Zemins großer Mentor. Nach der blutigen Niederschlagung der Demokratiebewegung und dem Machtkampf 1989, der zum Sturz des reformerischen Parteichefs Zhao Ziyang führte, hatte Chinas "starker Mann" den damaligen Shanghaier Parteichef als Kompromisskandidaten nach Peking geholt. Seither konnte der Technokrat die verschiedenen Fraktionen zufrieden stellen, die Stabilität wahren und China auf wirtschaftlichem Reformkurs halten. Doch der Preis ist hoch. Nötige politische Reformen blieben aus. Fast alle bekannten Bürgerrechtler sind im Gefängnis. Korruption und Machtmissbrauch wuchern. Die Presse wird an der kurzen Leine gehalten, das Internet streng abgeschottet, gegen die Kultbewegung Falun Gong läuft eine gnadenlose Kampagne. Auf dem Parteitag im Herbst nächsten Jahres wird Jiang voraussichtlich den Parteivorsitz abgeben, 2003 sein Präsidentenamt. Dann sollen auch seine "Drei Vertretungen" als Leit-idee die Parteistatuten zieren - und wie Deng Xiaoping einst will Jiang Zemin als Vorsitzender der mächtigen Militärkommission weiter im Hintergrund die Fäden ziehen.