Seit vergangener Woche attackieren IS-Verbände die kurdische Enklave mit Panzern, Haubitzen und Granatwerfern.
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Suruc. Meha Mustafa ist eine kleine, zähe, mutige Frau, die sich lieber um ihre Weizenfelder und Schafe kümmern würde, als in der türkischen Grenzstadt Suruc zum Nichtstun verdammt zu sein "Ich will so schnell wie möglich zurück in mein Dorf Lokore", sagt die fünffache Mutter, die vor wenigen Tagen vor den anrückenden Dschihadisten der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) aus der kurdischen Enklave Kobani in Syrien geflüchtet ist. Aber sie weiß auch, dass eine Rückkehr nach Syrien im Moment ausgeschlossen ist.
Es ist Dienstagnachmittag, der Tag, als US-Kampfjets erstmals die Terrormiliz IS in Syrien bombardieren. "Das ist gut", sagt Fatma, die 20-jährige Tochter der Erstfrau von Meha Mustafas Mann. "Sie sollen sie schlagen und alle vernichten." Zu diesem Zeitpunkt können die Frauen noch nicht wissen, dass die Hilfsappelle von Kurdenverbänden und internationalen Organisationen schließlich doch gefruchtet haben. Am Mittwochmorgen berichten Nachrichtenagenturen, amerikanische Kampfjets hätten in der Nacht die Terrormiliz rund 30 Kilometer westlich von Kobani (arabisch Ayn al-Arab) angegriffen.
Die innerkurdische Solidarität funktioniert
Die Hilfe kommt in letzter Sekunde. Seit Mitte vergangener Woche attackieren IS-Verbände die kurdische Enklave mit modernen Panzern, Haubitzen und Granatwerfern, die sie großenteils bei ihrem Blitzkrieg im Irak im Juni erbeutet haben. Ihnen steht die Selbstverteidigungsmiliz YPG der syrischen Kurden gegenüber, eine Schwesterorganisation der radikalen kurdischen Arbeiterpartei PKK aus der Türkei, die nur leicht mit russischen Kalaschnikows und Doschka-Maschinengewehren bewaffnet ist. Mehr als 140.000 Menschen sind nach Angaben der UN vor der Großoffensive seit Freitag in die benachbarte Türkei geflüchtet. Ihre Bugwelle staut sich vor allem in Suruc, zehn Kilometer von der Grenze entfernt.
Die kleine Grenzstadt hat 60.000 Einwohner und jetzt etwa ebenso viele Flüchtlinge aufgenommen. Die syrischen Kurden sitzen mit ihren vielen Kindern in den kleinen Parks, lagern in Schulen, Turnhallen, sogar in einem kürzlich aufgegebenen Supermarkt. Vor dem städtischen Kulturzentrum ist gerade ein Kleintransporter angekommen, der Reis und Gemüse in großen Kübeln anliefert. Im Nu formiert sich eine lange Schlange von Frauen, Kindern und alten Männern, die auf das Essen warten. Ein kurdischer Unternehmer lässt die Mahlzeiten für die rund tausend Flüchtlinge zubereiten, jeden Tag. Die innerkurdische Solidarität funktioniert. "Wir werden gut versorgt, es fehlt uns an nichts", sagt Meha Mustafa, die sich mit ihren fünf kleinen Kindern und zwei erwachsenen Töchtern der Erstfrau ihres Mannes in einer Ecke des Gartens notdürftig eingerichtet hat.
Ein Besuch in der Hauptstadt des Terrors
Dann erzählt sie vom Tag, als die Islamisten in Sichtweite ihres Dorfes kamen. "Sie haben diesmal viel bessere Waffen gehabt, und wir haben sie mit eigenen Augen kommen sehen. Als sie Granaten auf unser Dorf abfeuerten, sind wir nach Kobane geflohen", sagt die Kurdin. "Das sind keine Muslime, das sind Mörder!", sagt sie mit fester Stimme. "Wir nahmen nur mit, was wir am Körper trugen." Meha Mustafa weiß, wie gefährlich die IS-Terrormiliz ist, denn sie ist mehrfach, tief verschleiert, mit dem Bus zu Verwandten nach Rakka gefahren, in die Hauptstadt des "Islamischen Staates", rund 140 Kilometer entfernt von Kobani. Zuletzt vor zwei Wochen. "Die Menschen leben dort in ständiger Angst", berichtet Meha Mustafa. "Frauen dürfen nur mit ihrem Mann, Vater oder Bruder auf die Straße. Männer, die etwas falsch machen, werden öffentlich enthauptet. Ich habe am Straßenrand Köpfe auf Stecken und zwei Gehenkte gesehen."
Bei früheren Offensiven in Kobani wurden die Islamisten stets wieder zurückgeschlagen. Doch diesmal überrannten sie in nur drei Tagen 60 Dörfer im Umkreis der Hauptstadt und rückten bis kurz vor sie heran. Dabei verließen sie sich nicht nur auf ihre überlegene Feuerkraft, sondern auch auf die bekannte Einschüchterungstaktik. "Sie haben mehrere Männer geköpft und Mädchen entführt", sagt Meha Mustafa. Das habe sie von einer verlässlichen Quelle, sagt sie. Am vergangenen Freitag rief die syrische Kurdenpartei PYD alle Einwohner dazu auf, in die Türkei zu gehen, weil es im Kanton zu gefährlich und die Ehre der Frauen bedroht war." Sie meint die Gefahr von sexuellen Attacken. Nur die Männer, hieß es, sollten bleiben und kämpfen.
Die PYD übernahm nach dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2012 die Macht in den drei syrischen Kurdenenklaven, die geografisch voneinander getrennt an der türkischen Grenze liegen. Ende 2013 rief die PYD für diese Gebiete unter dem Namen Rojava die Unabhängigkeit aus. Seit mehr als einem Jahr greifen die Islamisten Rojava an, um ihre Gebiete zu arrondieren und einen größeren Grenzstreifen zur Türkei zu besetzen, weil sie auf den Nachschub über die zunehmend besser abgeschottete Grenze angewiesen sind.
IS führte bereits im Juli eine große Offensive gegen Kobani, die aber am verbissenen Widerstand der kurdischen Verteidiger scheiterte. Auch Meha Mustafas Ehemann kämpft zurzeit mit den YPG-Kräften in Kobani an der Front. Elf Tote haben die Verteidiger bisher zu beklagen. "Die YPG ist unser Retter und unsere Hoffnung", sagt die selbstbewusste Kurdin. Und die Türkei, wo sie Aufnahme fand? "Ich weiß nicht, was die Türkei will", sagt Meha Mustafa nach kurzem Nachdenken. "Aber eines weiß ich: Die Türkei liebt uns Kurden nicht."
Seit die PYD die Macht übernahm, hat Ankara eine Blockade gegen die syrischen Kurdengebiete verhängt, nur Schmuggler kennen die geheimen Routen über die alten Minenfelder. Medikamente, Lebensmittel, Benzin, alles ist Mangelware. Trotz Einkesselung hielten die Kurden aus - bis vergangenen Freitag. Der PYD-Kader Ahmet Bekra, ein 31-jähriger Elektriker, bezeugt, dass sich die Partei an jenem Tag angesichts des drohenden Genozids zur Evakuierung des gesamten Kantons entschloss. "Wir konnten dem Druck nicht mehr standhalten", sagt Bekra.
Eine Gruppe Studenten aus Deutschland und Österreich, die aus Solidarität und zur moralischen Unterstützung Rojavas nach Suruc gereist sind, hat den Tag miterlebt, als sich 70.000 Kurden im Niemandsland stauten. "Die Türken wollten sie nicht herüberlassen. Erst als Kurden aus Suruc sie mit Steinen attackierten, haben sie schließlich nachgegeben und den Weg freigemacht", sagt Thomas Marburger, 26, der in Hamburg Politikwissenschaft studiert. Die Studenten haben seither täglich versucht, sich an Mahn- und Solidaritätswachen der türkischen Kurdenpartei BDP zu beteiligen. Da der Flüchtlingsstrom deutlich nachgelassen hat, sind von den neun kurzfristig geöffneten Übergängen nur noch zwei für Einreisewillige frei. Doch diese würden hingehalten und schikaniert, sagt Marburger. "Und sie lassen definitiv keine Männer hinüber, die gegen IS kämpfen wollen." Würden Kurden gegen die Schikanen protestieren, löse die Polizei die Versammlung immer sofort auf.
Es ist völlig unklar, wie viele Menschen wirklich noch in der belagerten Enklave ausharren - die Angaben differieren zwischen wenigen Tausend und 400.000. Und niemand scheint auch zu wissen, wie viele YPG-Kämpfer sich den Dschihadisten entgegenstellen, 6000 oder doch nur 1000? "Es sind noch Hunderttausende in Kobani", behauptet tapfer Nihayet Tasdemir, eine zierliche 32-jährige Frau im Hauptquartier der sozialistischen Kurdenpartei BDP in Suruc - obwohl Fernsehbilder aus Kobani menschenleere Straßen zeigen. Im BDP-Haus werden die Demonstrationen an der Grenze ebenso koordiniert wie die lokale Flüchtlingshilfe in Suruc.
Kurden misstrauen der türkischen Hilfe
Die BDP-Funktionärin Nihayet Tasdemir, die vor kurzem erst aus fünfjähriger Haft wegen angeblicher Unterstützung der PKK entlassen wurde, sorgt nun für Unterbringung, Nahrungs- und sonstige Hilfen für die Flüchtlinge. "Wir sind überfordert", räumt sie ein. "Zwar sind die meisten Flüchtlinge bei Verwandten untergekommen, denn die Familienbeziehungen über die Grenze sind eng. Aber unsere Mittel sind begrenzt, denn wir bekommen kein Geld vom Staat." Die gesamte Hilfe werde getragen und finanziert durch Spenden kurdischer Hilfswerke und Privatpersonen, sagt die junge Frau.
Tatsächlich müssen die Kommunen im türkisch-syrischen Grenzgebiet zu einem erheblichen Teil allein mit dem Flüchtlingsstrom fertig werden. Wo ist der Staat? "Der staatliche Katastrophenschutz Afad ist durchaus hier", sagt die Kurdenvertreterin. "Aber die Menschen trauen der Türkei und ihren Institutionen nicht. Sie fürchten, dass man sie in andere Landesteile verlegt. Sie wollen aber hier in der Region bleiben und so schnell wie möglich zurück in ihre Heimat."
Viele Kurden in den 22 provisorischen Lagern von Suruc bestätigen diese Sicht der Dinge. Die Türkei sei mitschuld an dem Drama, weil sie IS unterstützt habe, sagen sie. Sie habe die Blockade verhängt, um Kobani auszuhungern und den Islamisten Waffen geliefert, damit die Enklave ihnen in die Hände falle und Ankara ein Kurdenproblem weniger habe. "Sie wollen uns schwächen, wo sie nur können. Warum sonst dürfen unsere Männer nicht nach Kobani, um dem IS die Stirn zu bieten, wenn sich die Türkei schon nicht selbst traut?", fragt ein alter Herr auf der Straße vor dem Rathaus der Stadt.
Das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) sieht sich in eine schwierige Lage gebracht. "Wir dürfen in der Türkei nichts ohne den Staat unternehmen, und damit werden wir mit dem Staat identifiziert", sagt Selin Ünal, die Sprecherin der türkischen Sektion des UNHCR. Ihre Organisation hat unter türkischer Aufsicht zwei Übergangslager in Suruc errichtet, die leider nicht so genutzt würden, wie es möglich sei. "Zu uns kommen nur die, die gar keine andere Chance haben", sagt Ünal. Auch sie beklagt fehlende Mittel. "Die internationale Gemeinschaft hat der Türkei bisher erst 21 Prozent der für dieses Jahr angeforderten Flüchtlingshilfe übergeben. Dabei hat das Land bereits 1,5 Millionen Syrer aufgenommen, und jetzt noch einmal 140.000!"
Die "Geisterstadt" Kobane steht kurz vor dem Fall
Für die Kurden dies- und jenseits der Grenze geht es nicht um Zahlen, sondern um Leben oder Tod. Die Lage in Kobane ist so ernst, die Haltung der Türkei so ambivalent, dass die Kurdenvertreter jetzt sogar den fragilen Friedensprozess mit der Regierung in Ankara infrage stellen. Der einflussreiche PKK-Funktionär Murat Karayilan sagte am Dienstag: "Der Friedensprozess mit der türkischen Regierung ist tot." Und da die BDP die Rathäuser entlang der Grenze beherrscht, wagt sie jetzt auch eine direkte Kraftprobe mit dem türkischen Staat - sie übernimmt nicht nur die Versorgung der Flüchtlinge, sie versucht auch jeden Tag aufs Neue, die erschöpfte YPG-Miliz in Kobane durch frische Kämpfer zu verstärken.
Die Straßen im Stadtzentrum sind von Polizei und Militär in Kordonstärke besetzt, Panzerwagen patrouillieren, Wasserwerfer stehen bereit - als ginge es nicht um einen humanitären Großeinsatz, sondern um Krieg. "Es ist Krieg. Diesen Krieg hat der syrische Präsident Bashar al-Assad begonnen, er hat die IS groß gemacht, und jetzt macht die Türkei das Spiel mit, um die Kurden zu treffen", sagt ein Mann, der sich erst am Montag aus Kobani nach Suruc rettete. Yashar Ali, 29, Ingenieur und Politiker einer kleinen Oppositionspartei in Kobani. "Ich bin geblieben, bis es gar nicht mehr anders ging."
Yashar Ali kann sich nicht erklären, woher all die Meldungen stammen, dass angeblich noch Hunderttausende in Kobane ausharrten. "Niemand ist mehr da, alle sind weg. Kobani ist eine Geisterstadt und steht kurz vor dem Fall. Die YPG kann vielleicht noch drei Tage standhalten." Die Islamisten, sagt der Ingenieur, stünden sieben Kilometer vor der Stadt. "Wenn kein Wunder geschieht, sind wir verloren." Vielleicht sind die Luftschläge der Amerikaner ein solches Wunder. Am Mittwochnachmittag meldeten kurdische Nachrichtenagenturen, dass die YPG den Vormarsch der Terrormiliz vorerst gestoppt habe.