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Ökonomisierung des Sozialen

Von Werner Kerschbaum

Gastkommentare
Werner Kerschbaum ist Generalsekretärs des Österreichischen Roten Kreuzes.

Mit der Wehrpflicht fiele der Zivildienst. | Was dabei noch verloren ginge.


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Apple-Gründer Steve Jobs hat auf die Frage, warum sein Unternehmen so wenig Marktforschung betreibe, geantwortet: "Weil die meisten Menschen nicht wissen, was sie wollen, bevor man es ihnen zeigt." Der Satz lässt sich 1:1 auf das zivilgesellschaftliche Engagement umlegen: Auch das gemeinsame, helfende Erlebnis muss man persönlich erleben.

Das zeigt gerade eine aktuelle Umfrage unter 1200 ehemaligen Rotkreuz-Zivildienern. Realistisch betrachtet hätten die allermeisten von ihnen ihren Dienst wohl nicht angetreten, wären sie nicht dazu verpflichtet gewesen. Anders sieht es neun Monate später aus: Da geben 95 Prozent der jungen Männer an, dass sie ihren Zivildienst sehr positiv erlebt haben. Sie haben Sinnstiftung und Befriedigung in der sorgenden Begegnung mit Mitmenschen erfahren. Mehr als die Hälfte von ihnen bleibt danach freiwillig tätig.

Versiegt diese Quelle zivilgesellschaftlichen Engagements nach der Wehrpflicht-Volksbefragung im Jänner, stellt sich nicht nur die unmittelbar-praktische Frage: Wie lässt sich die Versorgung von Menschen, die Hilfe brauchen, auch künftig auf dem bisherigen Niveau halten? Sondern auch eine mittelbar-gesellschaftspolitische: Was geht verloren, wenn nicht wie bisher tausende junge Männer Jahr für Jahr einen prägenden Einblick in unser Gesundheits- und Sozialwesen erhalten? Ein Einblick, der soziales Lernen ermöglicht: den beiläufigen, individuellen Erwerb sozialer Fähigkeiten und Fertigkeiten. Noch dazu, wo bei einem Wegfall des Zivildienstes ein Dienst an der Gesellschaft durch ein Bezahlmodell ersetzt würde.

Das wäre ein Paradigmenwechsel, der bedeutet: Auch für alle Leistungen, die dem Gemeinwohl dienen, ist ein Entgelt fällig. Das ist eine Haltung, die der Schwächung der Zivilgesellschaft Vorschub leistet. Berufenere als der Schreiber dieser Zeilen haben ausführlich beschrieben, was das für die Abnahme des sozialen Kapitals, für den Verlust von Vertrauen und Kooperationsbereitschaft und sogar für die Verringerung der volkswirtschaftlichen Produktivität bedeutet.

Jüngst hat der deutsche Soziologe Wilhelm Heitmeyer den Begriff von der "Ökonomisierung des Sozialen" geprägt. Er spricht von einer Gesellschaft, in der wirtschaftliche Kalküle immer stärker auch in das soziale Zusammenleben eindringen und gemeinwohlbezogene Orientierungen durch die Handlungsimperative des Marktes verdrängt werden.

Am 13. September 2012 verkündete Sozialminister Rudolf Hundstorfer: "Eine Abschaffung der Wehrpflicht bedeutet nicht den Wegfall der Leistungen des Zivildienstes." Selbst, wenn er recht behält: Eine Chance für junge Menschen, gemeinschaftsbezogene Formen menschlichen Handelns zu erfahren, wäre verloren. Und damit eine Grundlage für die Entwicklung einer "caring society", in der Menschen gelernt haben, füreinander Sorge zu tragen. Im Moment behält wohl Wilhelm Heitmeyer recht, wenn er meint, die Marktwirtschaft sei nicht mehr Teil der Gesellschaft. Vielmehr entwickle sich das gesamte Gemeinwesen zu einer "Marktgesellschaft".