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Öl, Klassenkampf und Ressourcen als Motivation für Arabellion und Bürgerkrieg

Von Thomas Seifert

Politik
© Grafik: Archiv

Die Konflikte im Nahen Osten haben tiefe Wurzeln und reichen weit in die Geschichte zurück. | Doch nun ist das Ende der Pax Americana gekommen, und die Karten werden neu gemischt.


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Fahnen, überall Fahnen. Hier ein Zedernbaum im roten Kreis, das Symbol der von Samir Geagea angeführten Christen in Ayn al-Rammane, einer Vorstadt im Südosten von Beirut. Ein wenig näher Richtung Stadtzentrum, in Haret Hraik wehen gelben Fahnen der schiitischen Hisbollah im Wind. Zwei Kilometer nordwestlich von dort, im von Drogen und Gewalt geplagten Viertel Tarik Jdideh, kommt es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Schiiten und Sunniten. Willkommen in Beirut, willkommen im Libanon, ethno-religiösem Flickenteppich und Fluchtpunkt für von Krieg und Verzweiflung Vertriebenen und Versuchs-Labor für den Weltuntergang.

Doch von 1975 bis 1989 war das Land selbst "Exporteur" von Flüchtlingen, ein blutiger Bürgerkrieg tobte: Palästinenser und Drusen gegen maronitische Christen, die schiitischen Amal-Milizen gegen die Palästinenser, die sunnitische Al-Mourabitoun-Miliz gemeinsam mit den Palästinensern gegen Israel, später kämpft die Schiitenmiliz Hisbollah gegen Israel. Am Ende des Krieges war fast jede Gruppe im Verlauf der Kämpfe mit der anderen Gruppe verfeindet, verbündet und wieder verfeindet gewesen. Syrien und Israel hatten sich auf libanesischem Territorium einen Stellvertreterkrieg geliefert, in den auch Saudi-Arabien, Libyen und der Irak verwickelt waren, die USA und Frankreich versuchten sich erfolglos mit Friedenstruppen als Ordnungsmächte.

Als am 22. Oktober 1989 die Unterschriften auf dem Taif-Friedensabkommen getrocknet waren, hatten 100.000 Menschen ihr Leben verloren, das Land war von syrischen und israelischen Truppen besetzt, hat sich bis heute nicht wirklich vom Konflikt erholt und wird immer wieder in regionale Konflikte hineingezogen: Von Mitte Juli bis Mitte August 2006 gab es Krieg zwischen der vom Iran unterstützten schiitischen Hisbollah und Israel. Bei den Kämpfen und Bombardements verloren 1191 Zivilisten ihr Leben. Nun, seit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien im Jahr 2011, der nun auch auf den Irak überschwappt, wird das Land von einer nie da gewesenen Flüchtlingswelle erfasst, das Flüchtlingshilfswerk UNHCR spricht von 1.120.518 syrischen Vertriebenen im Libanon. Die Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten haben seither zugenommen, die Anzahl der Anschläge ebenso.

Doch wo findet man die historischen Wurzeln der Konflikte im Nahen Osten? Nach dem Ersten Weltkrieg und der Niederlage des Osmanischen Reiches filetieren die siegreichen Imperien Frankreich und Großbritannien die Beute im Nahen Osten. "Im Sykes-Picot-Abkommen teilten sie das Erbe der Osmanen mit einer diagonalen, im Sand gezogenen Linie, die sich von der Mittelmeerküste bis zu den Bergen an der persischen Grenze zog. Das Territorium nördlich von dieser willkürlich gezogenen Linie sollte an Frankreich gehen, das Land südlich davon an Großbritannien", schreibt der am Kings College in London lehrende Historiker James Barr in seinem Buch: "A Line in the Sand - The Anglo-French Struggle for the Middle East 1914-1918". Die Linien, die damals mit Tinte auf einer Karte und ohne Rücksicht auf die ethnische Zusammensetzung gezogen wurden, werden seither mit Blut neu gezeichnet.

Israel, Öl, Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten

Prägend für die Region bis heute: Die Gründung Israels am 14. Mai 1948. Der Ölboom am Persischen Golf und im Irak. Aufstieg und Fall des säkularen, arabischen Nationalismus. Yom-Kippur-Krieg zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn samt darauf folgendem Opec-Öl-Embargo 1973. Bürgerkrieg im Libanon von 1975 bis 1990. Die islamische Revolution und der Sturz des Schah im Iran 1979 sowie der irakische Überfall auf den Iran am 22. September 1980, ein Blitzkrieg um Benzin, der zwei weitere Golfkriege (1990-1991 und 2003) provozierte.

Wobei sich der historische Konflikt zwischen Persern und Arabern in Form von religiösen Konflikten manifestiert. So kam es am 31. Juli 1987, mitten in einer heißen Phase des Irak-Iran-Krieges, in Mekka zu Zusammenstößen zwischen schiitischen Pilgern und saudischen Sicherheitskräften, bei denen mehr als 400 Menschen getötet wurden. 1988 war der blutige Krieg zwischen dem von arabischen Staaten und dem Westen unterstützten Irak und Iran mit einem Patt zu Ende gegangen. Saddam Husseins Irak wurde von der Schuldenlast von 86 Milliarden erdrückt: Ein Streit um Öl mit dem Nachbarn Kuwait eskalierte, am 2. August 1990 landeten irakische Amphibienboote in Kuwait, am Abend war die Annexion ein fait accompli. Der damalige Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung", Rudolph Chimelli, schrieb am Tag nach der Annexion: "Die Versuchung, einen neuen Krieg zu führen, der vorbei ist, bevor er richtig begonnen hat, muss für den irakischen Diktator Saddam Hussein unwiderstehlich gewesen sein. Sein Land ist infolge des achtjährigen Waffengangs mit den Persern ruinös verschuldet. Aber seine Armee hat mehr Waffen als irgendjemand sonst im Nahen Osten. Kuwait ist klein, reich und ohne mächtige Beschützer. Dennoch sieht Saddam Husseins Eintagekrieg mehr wie der Anfang als das Ende eines größeren Ringens um die Vormacht am Persischen Golf aus."

Die USA hatten Angst, dass Kuwait nur der Appetithappen für Saddam Hussein und Saudi-Arabien der Hauptgang werden könnte. Die Vereinten Nationen verlangten noch am Tag der Okkupation den irakischen Rückzug. Den USA gelang es bald, eine breite internationale Allianz aus 28 Nationen zu schmieden, und schon am 17. Jänner 1991 begann die Operation "Desert Storm", die am 5. März 1991 mit einer empfindlichen Niederlage für den irakischen Diktator endete. Aus Angst, der Irak könnte völlig zerfallen und dem Iran mehr Einfluss sichern, verzichtet Bush auf einen Vormarsch nach Bagdad. Die Koalitionstruppen nehmen sogar in Kauf, dass Saddam, sobald er seine unmittelbar zerfallene und zerschossene Macht wieder ein wenig konsolidiert hat, den im März 1991 beginnenden Aufstand im schiitisch dominierten Süden und in den Kurdengebieten bis April 1991 grausam niederschlagen kann. Die USA richten schließlich aber eine Flugverbotszone ein, die die kurdische und schiitische Bevölkerung vor Bombardements irakischer Luftstreitkräfte schützen soll. Kurden und Schiiten haben den Sunniten im Irak dieses grausame Schlachten bis heute nicht verziehen. "Desert Storm" war - wie der Irak-Iran-Krieg - ein Krieg um Öl, wie der saudische Scheich Ahmed Zaki Jamani, ein Kenner der Zusammenhänge zwischen Geo- und Ölpolitik, bestätigt: "Nehmen wir an, Kuwait wäre ein kleiner Staat in Afrika. Würden die USA dieses afrikanische Kuwait befreien? Der Grund des Golfkriegs war Öl. Und Öl war auch der Grund, warum Irak Kuwait angegriffen hat." "Mit dem Ende des Zweiten Golfkriegs geht eine Ära zu Ende", meinte der vor kurzem verstorbene Professor für Nahost-Forschung an der Stanford-Universität Fuad Ajami: "Von 1971, als die Briten ihre östlich des Suez stationierten Truppen zurückzogen, bis 1991 blieb es der Region selbst überlassen, ihr Gleichgewicht zu finden - sie ist bei diesem Versuch gescheitert. Nun sind die Amerikaner in der Region und sie sind hier, um zu bleiben."

Nun sind die USA direkt in der Region angekommen

Zur Überraschung vieler überlebte das Saddam-Regime. Also ging es darum, Saddam im Käfig zu halten. Der Zweite Golfkrieg hatte die USA direkt in die Region gebracht - die USA unterhielten nun Basen in Saudi-Arabien, Kuwait, Bahrain und Katar - und das sollte sich als verhängnisvoll erweisen. Denn die Präsenz von US-Truppen auf dem Boden Saudi-Arabiens rief einen gewissen Osama bin Laden auf den Plan. Und als am 11. September 2001 Flugzeuge ins World Trade Center in New York und ins Pentagon in Washington krachten, war klar: Das ist ein Angriff auf Amerika.

Bin Laden hat seine Motive für seinen Hass auf Amerika am 25. November 2002 in einem Brief an Amerika kundgetan: "Ihr stehlt unseren Reichtum und unser Öl und bekommt es zu armseligen Preisen wegen Eures internationalen Einflusses und Eurer militärischen Drohungen. Dieser Diebstahl ist zweifelsohne der größte Diebstahl der Menschheitsgeschichte."

Es war ganz offensichtlich, dass die Administration von George W. Bush die Anschläge des 11. September 2001 als Chance, als Carte blanche ansah. Zuerst sollten Osama bin Laden und seine Gastgeber in Afghanistan, die Taliban, vernichtet werden, doch das wahre Kriegsziel war der Irak - obwohl Saddam Hussein - wie sich später zeigen sollte - weder etwas mit dem 11. September zu tun hatte, noch über Massenvernichtungswaffen (das war der von Bush und Co. gelieferte Kriegsgrund) verfügte. Die irakische Armee wird in einer kurzen Kampagne vernichtend geschlagen, am 9. April 2003 wird die Statue von Saddam Hussein am Firdus-Platz (Paradies-Platz) vor dem Hotel Palestine in Bagdad von einem US-Panzer vom Sockel geholt. Die Tage des Plünderns und Brandschatzens beginnen, das Land versinkt im Chaos.

Von nun an gilt die Pozellan-Laden-Regel: You break it, you own it. - Wenn du’s kaputtmachst, gehört’s dir. Und der Irak "gehörte" nun den USA.

Der Dritte Golfkrieg war zwar ein eindrucksvoller Beweis der Schlagkraft, Präzision und Effizienz der US-Streitkräfte, aber es hatte sich offenbar niemand in Washington Gedanken über eine Nachkriegsordnung im Irak gemacht. US-Statthalter Paul Bremer löste die 450.000 Mann starke irakische Armee auf und legte so die Saat für einen jahrelangen blutigen Guerilla-Kampf gegen die US-Besatzer und einen blutigen Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten im Irak. Bald bestimmten die Schiiten - sie bilden die Mehrheit der Bevölkerung im Irak - das politische Geschick in Bagdad und die Kurden schufen sich langsam aber sicher ein weitgehend autonomes Gebiet Kurdistan. Die bisherigen Machthaber, die Sunniten, gingen leer aus. Besonders bitter: In ihren Siedlungsgebieten gibt es vergleichsweise wenig Öl.

Paradoxerweise stärkte George W. Bush mit seiner Politik im Irak auch die Achse Bagdad-Teheran und damit seinen Erzfeind Iran, den er in einer Rede noch der "Achse des Bösen" zugeordnet hatte. Der Irak war für Bush zum Desaster geworden, Nachfolger Barack Obama gewann die Wahl mit dem Versprechen, den blutigen Krieg zu beenden und die amerikanischen Soldaten heimzuholen.

Das Ende der Pax Americana und Obamas Nixon-Strategie

Das Ende der Pax Americana im Nahen Osten markiert gleichzeitig den Beginn für die Arabellion und das Entstehen einer neuen Ordnung: Syrien und der Irak existieren heute de-facto nicht mehr als funktionierende Staaten, die Türkei, die arabischen Golfstaaten und der Iran rittern um die Vorherrschaft in der Region und versuchen das Vakuum, das die USA hinterlassen haben, zu füllen. Ein Unabhängiges Kurdistan ist im Entstehen begriffen. Der Libanon droht in den Syrien-Irak-Vortex gezogen zu werden und selbst das ethnisch gleichförmige Jordanien droht durch das Chaos nebenan und die Flüchtlings-Welle destabilisiert zu werden.

In Maan, einer staubigen Provinzstadt im Süden Jordaniens - nicht weit vom Touristenmagneten Petra entfernt -, etwa haben erst unlängst radikale Jihadisten Abu Bakr al-Baghdadi, dem Anführer der gefürchteten Salafistengruppe Isis (Islamischer Staat im Irak und Syrien) ihre Treue geschworen und die Polizei davongejagt.

Um Amerikas Rolle im sich rapide und dramatisch verändernden Nahen Osten zu wahren, versucht Obama seit 2009 seine Version einer Nixon-goes-to-China-Strategie: Obama-goes-to-Teheran. Zur Erinnerung: 1971 legte der damalige US-Präsident Richard Nixon das Fundament für Beziehungen zwischen Washington und Peking, um den Krieg in Vietnam zu beenden.

Im Dezember 2011 verließ der letzte US-Soldat den Irak. Obama weiß: Er muss die Annäherung zum Iran bewerkstelligen, um die Region zumindest ein wenig zu stabilisieren - die derzeit in Wien stattfindenden Atom-Gespräche, bei denen der Iran auf eine streng friedliche Nutzung der Kernenergie festgenagelt werden soll, sind nur ein Aspekt dieser Bemühungen.

Nun geht es aber darum, die wahren Hintergründe der Konflikte im Nahen Osten zu erkennen: Und wie immer dreht sich alles um Wasser, Boden, Öl.

Beispiel Syrien: Dort hatte sich eine prahlerische Oberschicht in einer Welle der Liberalisierung nach den entbehrungsreichen Jahren des Sozialismus enorm bereichert und nichts getan, um die Not der Landbevölkerung nach den Jahren schlimmer Dürre von 2006-2010 zu lindern. 1,5 Millionen Menschen vom Land waren damals in die Slums der Städte geströmt.

Eine brisante Mischung und ein Rezept für einen explosiven Bürgerkrieg. "Spannungen zwischen den sozialen Schichten und nicht zwischen religiösen Gruppen haben die meisten der arabischen Rebellionen entzündet", schreibt das liberale Wochenblatt "Economist" in seiner jüngsten Ausgabe. Mit sektiererischer Ethno-Politik würden aber die Islamisten dieses Flammen nähren.

Das alte Lied: Es geht um Klassenkampf und Ringen um Ressourcen, doch es wird Opium des Volkes, der Clash of Civilizations, ethnische Zugehörigkeit und Glaube vorgeschoben.