Die Komponistin Olga Neuwirth erläutert ihre Arbeitsweise, übt Kritik am Konservativismus des Konzert- und Musiktheaterbetriebs und erklärt die Unterschiede zwischen einer Komposition und anderen Kunstformen.
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"Wiener Zeitung:" Frau Neuwirth, von Ihnen stammt der Ausspruch: Komponieren ist das Gegenteil von Leben. Was ist mit diesem Satz gemeint? Der langwierige Prozess der Notation? Olga Neuwirth: Einerseits meine ich damit das Gegenteil von sozialem Leben, andererseits den Versuch, durch Notation, die ja Kommunikation und Selbstzweck zugleich ist, den Zufall bis zu einem gewissen Grad auszuschalten. Was aber nicht funktioniert, weil es keine perfekte Notation gibt. Die eigenen Klangvorstellungen in ein codifiziertes System zu bringen und für andere Menschen, sprich für Musiker und Interpreten nachvollziehbar zu machen, ist sehr schwierig. Letztlich bleibt immer eine Unschärfe, eine gewisse "fuzzy logic".
Mit anderen Worten: Der Zufall ist im Rahmen der Umsetzung eines Werkes nur bis zu einem gewissen Grad lenkbar?
So ist es. Man ist von anderen Menschen, ihrem Können, ihrem Wollen sowie ihrer Auffassungsgabe abhängig.
Die Notation ist somit nur der Versuch eines Anhaltspunktes?
Das Papier sagt wenig. Andererseits ist Komponieren so zeitaufwändig, dass es sich im Grunde gegen die eigene Lebenszeit richtet. Im Kopf hat man die gesamte Klangvorstellung ja schon fix und fertig. Dann beginnt die minutiöse Prozedur der Notation. Jede Sekunde Musik wird wie in der Quantenphysik in Nanosekunden zerteilt und muss für jedes Instrument festgehalten werden.
Wie lange arbeitet man an einer Minute Musik?
Das hängt davon ab, wie viele Musiker berücksichtigt werden müssen und wie dicht die Strukturen sein sollen. Ein schneller Lauf von der tiefsten Tiefe bis in die höchste Höhe, der sich über einen Orchesterapparat von 60 Musikern spannt, ist notationstechnisch enorm zeitintensiv. Für eine halbe Minute Musik versitzt man rund zwei Tage. Zudem gilt es, das rhythmische Ineinandergreifen innerhalb eines Taktes zu berücksichtigen. Das ist eine unglaubliche Geduldsarbeit, und ich bin im Grunde kein geduldiger Mensch.
Wie hält man so viel Musik im Kopf aus?
Das ist ein Problem und enorm anstrengend.
Verträgt man nebenbei noch andere Musik?
Im Zuge des Komponierens nicht unbedingt. Andere Kunstsparten können hingegen bereichernd wirken. Beispielsweise die bildende Kunst. Wenn ich in Ausstellungen gehe, kann es passieren, dass sich gewisse kompositorische Fragestellungen intuitiv lösen.
Existiert zwischen den Komponistinnen und Komponisten ein Austausch?
Das kann ich nicht beurteilen. Ich war immer ein einzeln herumlaufendes Wesen und nie in diese Szene integriert. Vielleicht eher noch, als ich in Berlin oder in den USA lebte. Da war Kommunikation leichter herstellbar und der Neid unter den Komponisten nicht so groß, wie hier in Österreich.
Man darf auch nicht vergessen, dass in der Zeit, als ich zu studieren begann, die Position des Komponistinnen-Seins absolut inexistent war. Das war auch der Grund, weshalb ich bei Adriana Hölszky in Stuttgart studierte. Klassische Musik ist bis zum heutigen Tag die mit Abstand konservativste Kunstsparte.
Inwiefern?
Weil man sie nicht hinterfragen darf. Dennoch möchte ich mir aber weiterhin erlauben, gewisse Dinge in diesem Business zu hinterfragen, auch wenn ich dafür angefeindet werde.
Andererseits zählen Sie mittlerweile zu den anerkanntesten Komponistinnen der Gegenwart.
Wer sagt das? Das heißt ja nicht, dass man wirklich ernst genommen wird. Meistens schwingt eine unglaubliche Verachtung mit. Ich darf gerade einmal sein - aber das heißt nicht, dass man wirklich geschätzt wird. Das ist ein großer Unterschied. Das Genie ist immer männlich - gerade in der Musikwelt. Aber darüber zu diskutieren habe ich gar keine Lust mehr. Jedes Reden ist sinnlos.
Gibt es dennoch Mentoren in Ihrem Leben?
Nein, wie gesagt, ich bin eher ein Alleinläufer. Die Einzige, die mich immer moralisch gestützt hat, ist Elfriede Jelinek.
Wie kam es zum Kontakt mit Elfriede Jelinek?
Über die Jugendmusikwerkstatt in Deutschlandsberg. Ich war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt. Elfriede Jelinek verfasste damals gemeinsam mit Kindern aus der Gegend das Libretto für die Kommunaloper "Robert der Teufel".
Gemeinsam mit Elfriede Jelinek gab es auch den Plan, für die Salzburger Festspiele 2006 eine Don Giovanni-Paraphrase zu realisieren. Ein Projekt, das bekanntlich kurzfristig platzte. Gibt es mittlerweile neue Realisationschancen für dieses Werk?
Nein. Das ist auch der Grund, weshalb ich mich überhaupt nicht mehr auf langfristige Vorplanungen einlasse. Im Falle der Don Giovanni-Absage war das ganze Projekt bereits bis zum Uraufführungsdatum extrem weit gediehen. In so einem Fall kann man ja keine anderen Angebote mehr annehmen. Für eine Oper in diesem Ausmaß muss man gut zwei Jahre Arbeit einplanen.
Wie bewältigt man eine solche Absage finanziell?
Das ist natürlich ein Problem. Glücklicherweise konnte ich diese Phase mit Film- und Theatermusik überbrücken.
Apropos Kino: Zuletzt arbeiteten Sie an der Fertigstellung der Filmmusik für Michael Glawoggers Haslinger-Verfilmung "Das Vaterspiel". Wie kam es zu diesem Auftrag?
Das war recht skurril. Letztes Jahr war ich drei Monate in New York und bekam einen Anruf, dass Michael Glawogger ebenfalls in New York sei und mich gerne treffen würde. Also verabredeten wir uns in einem japanischen Restaurant, und er fragte mich, ob ich die Filmmusik komponieren möchte.
Das Medium Film war ja bereits im Rahmen Ihrer Diplomarbeit ein Thema für Sie.
Ich befasste mich zu diesem Zeitpunkt sehr intensiv mit dem Regisseur Alain Resnais, der Musik aus dramaturgischer Sicht auf sehr unkonventionelle Weise im Film einsetzte. Zudem war er einer der Ersten seiner Generation, der sich für Neue Musik interessierte.
Wie klappte nun die Zusammenarbeit mit Michael Glawogger?
Man muss vorausschicken, dass filmisches Werken, sprich permanent am Schneidetisch zu arbeiten, eine gänzlich andere Vorgehensweise darstellt, als Musik zu machen. Beim Film werden einzelne Szenen ständig montiert. Letztlich gab es ca. 42 verschiedene Versionen des Filmes. In musikalischer Hinsicht kann man auf diese Weise natürlich überhaupt nicht denken. Wenn ich komponiere, muss ich ein fertiges Material haben, das ich in weiterer Folge den Musikern übergebe. Ich kann nicht einfach sagen: Schneiden wir bei Takt 24-33 und kleben wir alles neu zusammen. Obwohl Film und Musik die Zeitkunst-Sparten schlechthin sind, existieren gänzlich unterschiedliche Arbeitstechniken.
Sie mussten somit auf jede Änderung seitens der Schnitttechnik musikalisch reagieren?
So ist es. Wobei man irgendwann an den Punkt kommt, wo man sich sagt: Das ist jetzt meine Endfassung.
Ich nehme an, die Arbeit an einem Filmprojekt ist an ein engeres Korsett gekoppelt, als das Komponieren eines Orchesterwerkes?
Selbstverständlich steht beim Film das Bild im Vordergrund, wenngleich man gleichzeitig natürlich nicht am Bild entlang komponiert. Es geht vielmehr um einen gezielten Einsatz von musikalischen Stilmitteln.
Kann man beim "normalen" Komponieren besser über die Zeit verfügen?
Das ist leider auch nicht oft der Fall. Jeder Mensch hat eine andere Wahrnehmung von Zeit. Die unmittelbare Zeit, in der wir uns bewegen, wird immer hektischer. Das heißt, die Zeit ist so entzaubert, dass man nicht mehr über sie verfügen kann. Und da sind wir wieder beim Thema Zeitkunst. Film ist immer an das Bild gekoppelt, aber es gibt z. B. auch die Möglichkeit von Rückblenden. In der Musik ist das unmöglich. Der Vektor zielt immer nur in eine Richtung. Und eine Wiederholung bedeutet in der Musik immer nur eine Pseudo-Erinnerung.
Könnte man sagen, dass Musik ein Muster für eine abstrakte Zeitrelation ist?
Für mich ist ein Musikstück eine Art erklingende Mathematik. Wie bereits erwähnt: Im Kopf ist im Grunde alles fertig, aber das heißt noch gar nichts. Jedes Detail muss herausgearbeitet, fragmentiert werden, bis - so ist es für mich jedenfalls - eine große Musikwolke entsteht.
Wie sieht das Leben eines Komponisten bzw. einer Komponistin prinzipiell aus? Lebt man von einem Uraufführungstermin zum nächsten?
Wenn man keine Professur oder einen anderen fixen Job hat, dann ist das wirklich hart. Man hat ständig Deadlines und muss permanent funktionieren. Es ist schon eine totale Selbstausbeutung. Ich mache das seit meinem 15. Lebensjahr. Ich behaupte auch immer: Mozart ist an geistiger Ausbeutung gestorben.
Im Grunde war Ihre Entscheidung, Komponistin zu werden, auch mit einem ziemlichen Schicksalsschlag verbunden. Ursprünglich waren Sie ja eher im Jazz beheimatet und spielten seit Ihrem 7. Lebensjahr Trompete.
Das ist richtig. Davor hatte ich Klavierunterricht, was ich nicht besonders mochte. Aber der Klang der Trompete faszinierte mich sehr! Bis dann ein Autounfall alles zunichte machte.
Wie alt waren Sie da?
15 Jahre.
Zu Beginn Ihrer Studienzeit haben Sie neben Film auch Malerei studiert. Was war letztlich ausschlaggebend für die Entscheidung, sich auf Musik zu konzentrieren?
In der Musik - als abstrakteste Kunstsparte - habe ich für mich erkannt, dass ich diese Hierarchien besser hinterfragen kann, da sie noch so hegemonal sind. Das Bild an sich ist vordergründiger, besonders in unserer Zeit. Musik hingegen ist flüchtig, eben nicht greifbar. Sie ist für mich ein Schutzort. Außerdem konnte ich mir mit Musik eine Identität schaffen; in gewisser Weise (surreale) Un-Orte bauen, die irgendwie da sind, dann aber wiederum auch nicht, um die Welt für mich zu korrigieren. Andererseits ist man wiederum extrem abhängig von anderen Menschen. Wenn eine Komposition nicht aufgeführt wird, existiert sie nicht. Musik-Spielen ist eine sehr soziale Kunstsparte, Komponieren nicht.
Weil man im Prozess des Komponierens sehr zurückgezogen lebt.
Das ist die Diskrepanz des Komponisten. Absolute Einsamkeit über Wochen, Monate - und bei Opernprojekten vielleicht sogar Jahre - und dann dieses plötzliche Heraustreten zur Kommunikation, um zu vermitteln, was man da monatelang gemacht hat. Es entsteht eine eigenartige Schizophrenie in einem selbst. Hinzu kommt, dass man den Komponisten prinzipiell nicht mehr vertraut.
Ein Vertrauensmangel von Veranstalter-Seite?
Ja. Das offene Kunstwerk, das aus dem Menschen heraus kommt, darf nur noch in den seltensten Fällen sein. Normalfall ist, dass speziell beim Musiktheater ständig Bedenken angemeldet werden.
Was den Inhalt eines Werkes betrifft?
Da sind wir wieder beim Konservativismus. Am Theater steht es außer Frage, dass man Tabus auf die Bühne bringen kann. Nur im Musiktheater wird man immer wieder mit der Frage konfrontiert: Sind Sie sicher, dass das Publikum diesen oder jenen Stoff aushält? Im Sprechtheater würde sich diese Frage nie stellen. Immer diese Angst, dass das Publikum davonläuft! Aber das sind meiner Meinung nach nur Ausreden.
Ausreden wofür?
Dafür, dass auch die meisten Intendanten diese Musik nicht mögen. Mir ist schon klar, dass Neue Musik nie die Massen anziehen wird, aber sie muss existieren dürfen. Diese Entwicklung finde ich ein echtes Problem.
Demgegenüber hat sich in Österreich in den letzten Jahren eine ziemlich große Fangemeinde für zeitgenössische Komposition gebildet. Bestes Beispiel sind die stets gut besuchten Veranstaltungen von "Wien modern".
Auch "Graz 2003" war ein voller Erfolg. Das ist der nächste Aspekt: Seitens der Veranstalter herrscht oft eine Fehleinschätzung des Publikums. Der Rezipient, der aufgeschlossen und hörend in einen Raum geht, darf selbst nicht entscheiden, sondern wird durch die Zensur der Intendanz auch als Hörer zensuriert. Dabei wäre doch Interesse da.
Mit welchen Argumenten werden zeitgenössische Musikprojekte abgelehnt?
In erster Linie mit ökonomischen. Geldmangel ist ja ein Totschlagargument. Aber noch einmal zurück zur sozialen Komponente von Musik. Musik hat auf der anderen Seite auch immer etwas mit Beziehung zu tun. Man muss einander zuhören, aufeinander reagieren und eingehen können. Deshalb ist das Verhältnis zwischen Musiker, Dirigent und Komponist enorm wichtig. Und ich verstehe heute Luigi Nono immer besser, der sich in seinen letzten Lebensjahren mehr und mehr auf einige wenige Musiker konzentrierte, zu denen er Vertrauen hatte.
Das heißt, Nono ließ seine Werke nur von ganz bestimmten Musikern aufführen?
Ja, man kannte einander und konnte einen gemeinsamen Weg gehen. Jedes Werk, das sich ein Künstler ausdenkt, hat eine inhärente Logik. Wenn dieses System zerstört wird - sei es von Regisseuren, Musikern oder Dirigenten -, dann geht die Stimmigkeit verloren, was sich wiederum sofort aufs Publikum überträgt. Wie gesagt: Musik ist eine Sache des Vertrauens, und mir wäre sehr wichtig, dass man umgekehrt auch dieser Kunstsparte wieder mehr Vertrauen schenkt.
Zur Person
Olga Neuwirth wurde 1968 in Graz geboren. Von 1987 bis 1993 studierte sie Komposition an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Wien, sowie am Elektroakustischen Institut. 1985 bis 1986 studierte sie am Conservatory of Music, und Malerei und Film am Art College, San Francisco. Olga Neuwirth erhielt wesentliche Anregungen für ihre Arbeit durch die Begegnungen mit Adriana Hölszky, Luigi Nono und Tristan Murail, bei dem sie 1993/94 in Paris studierte.
1999 wurde "Bählamms Fest", ihr erstes abendfüllendes Werk (Libretto: Elfriede Jelinek nach Leonora Carrington) bei den Wiener Festwochen uraufgeführt; sie erhielt dafür den Ernst Krenek-Preis.
Ihr für Pierre Boulez und das London Symphony Orchestra geschriebenes Werk "Clinamen/Nodus" war nach der Londoner Uraufführung im März 2000 in einer weltweiten Tournee zu hören und ist auf CD erhältlich.
2003 wurde ihr Musiktheater "Lost Highway" nach dem gleichnamigen Film von David Lynch (Libretto: Elfriede Jelinek und Olga Neuwirth), beim "steirischen herbst" in Graz uraufgeführt.
Weitere Kompositionen (Auswahl):
2005 "...le temps désenchanté... ou le dialogue aux enfers", Klanginstallation an der Place Igor Stravinsky, Auftrag des Centre Pompidou und des IRCAM/Paris. Dazu ein Kurzfilm-Essay von Olga Neuwirth mit einem Fragment von René Clairs Film "Paris qui dort" als Ausgangsquelle.
Das Trompetenkonzert "...miramondo multiplo..." für die Wiener Philharmoniker unter der Leitung von Pierre Boulez und dem Solisten Håkan Hardenberger wurde bei den Salzburger Festspielen 2006 uraufgeführt.
Christine Dobretsberger, geboren 1968, lebt und arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Wien.