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Oliven aus Afrin

Von Thomas Schmidinger

Politik

Der kurdische Kanton Afrin erfreut sich einer relativen Stabilität. Die IS-Milizen stehen aber nur wenige Kilometer entfernt.


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Kämpferinnen der Frauenverteidigungs-Einheit YPJ im Camp Shahid Arin im Dorf Katma.
© T. Schmidinger

Afrin. Der Weg nach Afrin führt über Azaz. Der westlichste der drei kurdischen Kantone in Syrien besitzt keinen Grenzübergang zur Türkei. Hier musste die türkische Regierung nicht einmal die Grenze schließen. Es gab einfach nie einen Grenzübergang. Die nächstgelegenen Grenztore zwischen der Türkei und Syrien liegen im Südwesten bei Bab al-Hawa und im Osten bei Azaz. Am Beginn des syrischen Bürgerkrieges war es noch relativ einfach, in der Nacht illegal die Grenze zu überqueren. Heute ist das Risiko, dabei auf Minen zu treten oder von türkischen Soldaten angeschossen zu werden, für viele größer als die Reise durch das von Einheiten der Islamischen Front beherrschte Azaz.

Im Gegensatz zu den Grenztoren in die anderen kurdischen Kantone hat die Türkei hier ihren Grenzübergang weiter geöffnet. Auf der syrischen Seite des Grenzübergangs weht die grün-weiß-schwarze Fahne der syrischen Republik, die vor dem baathistischen Militärputsch von 1963 als offizielle Landesflagge fungierte und nun von den gemäßigten Rebellengruppen verwendet wird. Auf einem großen Schild empfängt einen die erst im Dezember gegründete al-Jabhat al-Shamiya, ein loser Zusammenschluss politisch-islamischer Rebellengruppen um die Islamische Front, die von bewaffneten Gruppen der Muslimbruderschaft bis zu den Dschihadisten der Ahrar al-Sham reicht. Ein nur etwa 12 Kilometer breiter Korridor wird hier von den Kämpfern der Islamischen Front und ihren Verbündeten zwischen den Kurden im Westen und dem sogenannten "Islamischen Staat" im Osten gehalten.

Von Mai bis Juli 2012 war die Stadt bereits von der Freien Syrischen Armee erobert worden. Im September 2013 übernahm jedoch der "Islamische Staat im Irak und Großsyrien", wie sich der IS damals noch nannte, die Kontrolle über die Stadt. Im Februar 2014 wurde er von der rivalisierenden, zum al-Qaida-Netzwerk gehörenden Jabhat al-Nusra zum Rückzug gezwungen. Seither beherrschen Kämpfer der Islamischen Front die Stadt. Die Jahbat al-Nusra unterhält allerdings ebenfalls eine Präsenz, die zumindest geduldet wird.

Die in Afrin regierende Schwesterpartei der PKK, die Demokratische Unionspartei PYD und die von ihr gegründeten Volksverteidigungskräfte YPG werden von den hier herrschenden Rebellengruppen als Kollaborateure betrachtet. Yussuf Halap, wie sich der einundzwanzigjährige Pressesprecher des Grenzpostens nennt, macht aus seiner Verachtung der YPG kein großes Geheimnis: "Wir haben kein Problem mit den Kurden. Die Kurden sind unsere Brüder. Aber PYD und YPG haben sich nicht der Revolution angeschlossen, sondern kollaborieren mit Assad! Deshalb sind sie unsere Feinde." Mit neunzehn, kurz nach Beginn seines Studiums, hatte sich der junge Mann in Aleppo der Revolution angeschlossen. Friedlich war er monatelang auf die Straße gegangen. Die brutale Repression des Regimes hätte die Revolution gezwungen, sich zu bewaffnen. Vom Westen fühlt er sich verraten. Er hatte sich den Liwat al-Tawhid angeschlossen, einer Gruppierung, die der Muslimbruderschaft nahestand und von Qatar unterstützt wurde. Eingezwängt zwischen dem "Islamischen Staat" und dem Regime, hofft er immer noch auf einen Sieg der Revolution. Es gäbe Hinweise, dass sich der Islamische Staat zurückziehen müsse, meint er mit wenig Überzeugungskraft. Gegen Christen und Juden habe er nichts einzuwenden und auch nichts gegen Jesidis. "Nur die Schiiten hasse ich! Die Schiiten unterstützen das Regime und dafür hassen wir sie!", stellt er klar.

Westliche Journalisten werden nicht mehr gerne über die Grenze gelassen. Seit der "Islamische Staat" am 30. Jänner den japanischen Journalisten Kenji Goto geköpft hat, werden hier Ausländer nicht mehr so gerne gesehen. "Kenji Goto hat uns angelogen!", meint einer der bärtigen Kommandanten: "Er hat uns erklärt, dass er nach Aleppo will, und ist dann eigenmächtig nach Raqqa abgebogen. Er hatte wohl eine Abmachung mit dem IS und gedacht, dass diese halten würde. Und jetzt macht uns seine Frau Vorwürfe, dass wir ihn nicht geschützt hätten."

Es benötigt derzeit einiges an Verhandlungsgeschick, doch über Azaz einreisen zu können. Doch nach einiger Zeit klappt es. Es dauert keine Viertelstunde, bis wir am Checkpoint der YPG angekommen sind. Wie an einer Grenze durchsuchen hier die kurdischen Kämpfer das Gepäck. Dann geht es weiter in die Stadt. Die Stadt Afrin selbst hatte bei der letzten Volkszählung 2001 43.434 Einwohner und ist seither weiter gewachsen. Insgesamt leben in der Region rund 400.000 Kurdinnen und Kurden. Sie leben seit 2012 unter einer prekären Selbstverwaltung unter Führung der PYD. Am 29. Jänner 2014 rief diese den Autonomen Kanton Afrin aus. Das hügelige Agrarland ist für seine Olivenbäume bekannt. 23 Millionen Olivenbäume soll es in der Region geben. Auch Getreide und Gemüse werden angebaut. Sogar in ganz Syrien bekannter Arak mit dem Namen al-Batta wird hier hergestellt.

Beinahe idyllische Ruhe

Im Vergleich zu anderen Teilen Syriens ist es hier geradezu idyllisch ruhig geblieben. Dem einzigen der kurdischen Kantone, dem mit Hevi Ibrahim Mustefa eine Frau als Premierministerin vorsteht, ist es in geradezu bemerkenswerter Weise gelungen, sich aus dem Bürgerkrieg herauszuhalten. Schuld daran ist sicher auch seine vorteilhafte Lage. Im Gegensatz zu den beiden anderen kurdischen Kantonen handelt es sich bei Afrin um ein geschütztes Hügelland von geringem strategischen Interesse. Und seit der IS aus Azaz vertrieben wurde, droht auch von dieser Seite keine unmittelbare Gefahr. Die Kurden hatten sich im März 2013 sogar als innersyrische Diplomaten hervorgetan und zwischen der vom Regime beherrschten schiitischen Enklave um die Dörfer Nubl und Zahra und den sie umgebenden Einheiten der FSA und der Islamischen Front einen Waffenstillstand vermittelt. Heute stehen sich am Südrand des Kantons Afrin Einheiten der Jabhat al-Nusra in einigen sunnitischen Dörfern und Regierungssoldaten in den beiden schiitischen Dörfern im Umkreis weniger Kilometer gegenüber. Dazwischen liegen die südlichsten Ausläufer des kurdischen Kantons und ein von den Kurden bewachtes Camp für Vertriebene aus Aleppo.

Zufluchtsort Afrin

Der Kanton Afrin wurde für viele zum Zufluchtsort. Dabei ist die hier ausgerufene Autonomie bis heute sehr prekär. Weder die Regierung in Damaskus noch die arabischen Rebellen haben die Autonomie der Kurden bislang anerkannt und die Türkei betrachtet die hier regierende Schwesterpartei der PKK ohnehin als terroristische Vereinigung. Aber auch mit anderen kurdischen Parteien bleibt das Verhältnis schwierig. Afrin war zwar schon seit den 1980er Jahren eine Hochburg der PKK. Aber auch hier gibt es mit der Yekiti-Partei und der Demokratischen Partei Kurdistans in Syrien, einer Schwesterpartei der PDK von Masoud Barzani im Irak, rivalisierende Gruppen. Nach dem im Oktober abgeschlossenen Abkommen von Dohuk hätten diese Parteien schon längst in die Verwaltung eingebunden werden sollen. Woran dies bislang gescheitert ist, ist auch von Premierministerin Hevi Ibrahim Mustefa nicht wirklich in Erfahrung zu bringen. Man wolle selbstverständlich mit allen zusammenarbeiten, versichert die eloquente Frau, allerdings seien die Konflikte mit den anderen Parteien bisher eben noch nicht ganz ausgeräumt.

In der Zwischenzeit werden von der PYD politische Fakten geschaffen. Alle Ministerien sind von PYD-Gefolgsleuten besetzt. Das zumindest in der Theorie basisdemokratische Rätesystem, das hier aufgebaut wurde, wird ebenso von Parteimitgliedern oder parteinahen Gruppen dominiert, wie die Polizei und die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ.

Dabei ist allerdings auch die Regierungspartei PYD bei näherer Betrachtung keine so festgeschmiedete Einheit, wie es scheint. Nach der Übernahme der Region im Sommer 2012 traten neue Mitglieder in die Partei ein, die oft weniger die links gerichtete Ideologie der Partei als die Nähe zur Macht suchten.

Die Verwaltung scheint allerdings im Vergleich zu anderen Teilen Syriens relativ gut zu funktionieren. In der Stadt Afrin selbst wird viel gebaut. Es gibt einen lebendigen Markt, in dem eigentlich alles zu bekommen ist. Allerdings fehlt es auch hier an Zugang zu höherer Bildung. Zwar gab es einmal eine kleine Privatuniversität, die meisten jungen Leute aus Afrin studierten allerdings im nahen Aleppo. Der Bürgerkrieg hat die Region nicht nur von ihrem traditionellen wirtschaftlichen Zentrum, sondern auch von ihren Universitäten abgeschnitten.

Immerhin fühlt man sich hier so sicher, dass Afrin bis heute der einzige der drei kurdischen Kantone ist, in dem bisher nicht die Wehrpflicht für Männer eingeführt wurde. Nicht nur die Frauenverteidigungseinheiten YPJ, sondern auch die Volksverteidigungseinheiten YPG sind hier weiterhin Freiwilligenarmeen. 2013 gab es zwar Angriffe der Jabhat al-Nusra und Ahrar al-Sham auf jesidische Dörfer. Allerdings konnten diese zurückgeschlagen werden.

Freiwillige aus Afrin kamen auch in der Schlacht um Kobanê zum Einsatz. Wöchentlich kamen die jungen Kämpferinnen und Kämpfer als "Märtyrer" zurück. Die mit Musik und militärischem Geleit organisierten Heldenbegräbnisse werden regelmäßig zu politischen Manifestationen des kurdischen Kampfes um Autonomie. Von den Geschäftsleuten ärgert sich zwar mancher bereits darüber, dass während der Begräbnisse regelmäßig alle Geschäfte zu schließen sind, trotzdem hat auch hier die Bevölkerung großen Anteil am Kampf um Kobanê genommen.

Sollte der IS einmal die Stellungen der Islamischen Front und der FSA überrennen und wieder direkt an den Kanton angrenzen, wollen die Kurden vorsorgen. An den Außengrenzen des Kantons werden derzeit eifrig Befestigungstürme und Stellungen errichtet. Hier, so hoffen die Kurdinnen und Kurden aus Afrin, soll sich nicht die Tragödie von Kobanê wiederholen.