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Hier, inmitten des US-Bundesstaates Ohio, sieht es ein bisschen aus wie im Allgäu: eine sanft geschwungene Hügellandschaft, viel Grün und dazwischen braungescheckte Kühe. Etwas seltsam muten freilich die schwarzen einspännigen Kutschen an, die man allerorts auf den Straßen sieht. Sie sind das typische Transportmittel der Amish, einer deutschstämmigen religiösen Gemeinschaft, die für ihre traditionelle Lebensweise und ihren Technik-Verzicht bekannt sind. Rund 36.000 von ihnen leben im Holmes Country, und das Städtchen Berlin/Ohio ist der touristische Mittelpunkt dieser weltweit größten Amish-Gemeinde. "Das einfache Leben", lautet das Motto der Fremdenverkehrswerbung - und in der Tat findet man selten eine Region, in der ökologisches Wirtschaften so wie hier seit jeher zum Alltagsleben gehört.
Maschinen ohne Strom
Einen ersten Eindruck davon vermittelt etwa das Kaufhaus "Lehman’s Hardware" in dem kleinen Ort Kidron. Der Laden wurde 1955 gegründet und versorgt seitdem die Amish mit Haushaltsmaschinen, die ohne Elektrizität auskommen. Gerne zeigt Verkäufer Nik Sohar zum Beispiel eine der Waschmaschinen, die ohne Strom funktionieren. Sie kostet 779 Dollar und wird mit der Hand betrieben.
Die nassen Wäschestücke werden durch zwei engstehende Gummi-Rollen gepresst und so ausgewrungen. (Die Amish-Höfe zeichnen sich übrigens durch flatternde Wäsche vor den Häusern aus, was sonst im Lande kaum mehr vorkommt, weil meist elektrische Trockner benutzt werden.)
Ein paar Ecken weiter im Laden gibt es Kühlschränke, die mit Gas funktionieren (1095 Dollar). No electric, please!, gilt auch für Kühltruhen. Kommen wir zu den Küchenmaschinen: Schlagobers wird natürlich mit handbetriebenen Quirlern geschlagen - wie bei uns in den 1950er Jahren - und auch ein handgestampftes Butterfass steht nicht weit entfernt. So geht es weiter, durch die Lampenabteilung mit den Ersatzteilen für die Öl- und Gaslampen, zur hand- oder pferdegetriebenen Eismaschine - man isst hier gerne Speiseeis - bis zu den Bestandteilen für selbst gemischtes Waschpulver (Soda plus Seife) und Dampfdruckkochtöpfen für das Einmachen von Obst. Wer hierher zum Einkaufen kommt und kein Tourist ist, lebt und produziert öko-analog.
Wie das geht, sieht man draußen auf den Feldern: Die Sämaschinen werden von Pferden gezogen. Traktoren, Autos, Fernseher und dergleichen Technik mehr werden von den Amish abgelehnt. Das Regelwerk dazu aber ist variantenreich, was sich zum Beispiel auf dem Bauernhof von Reuben Miller studieren lässt. Der 52-Jährige versorgt an diesem Abend gerade seine 30 Milchkühe und steckt ihnen die elektrischen Melkmaschinen an die Euter, der Kuhstall ist durch Neonlampen erhellt. Vorne, am Eingang zum Kuhstall, hockt und liegt eine Bande von Katzen, große und kleine, wohl an die 20 Stück, und beobachtet das Geschehen. Und das völlig unberührt von der nahen Anwesenheit des Hofhundes, der gähnend und faul daliegend ebenfalls ein bisschen in der Gegend herumschaut.
Diese Farm ist ein Ort, wo Lebewesen leben können. Und wo es zwar Strom, aber weder ein Handy noch einen Fernseher oder Internet gibt. "Wir lesen viel", sagt Reuben und meint damit seine Frau und die vier Kinder. Wenn man verstehen will, wie das mit den elektrischen Melkmaschinen geht, muss man einen Blick hinaus vor den Kuhstall werfen: Dort arbeitet ein Dieselmotor, um die Elektrik für die Melkmaschine zu produzieren. Strom ja, aber Vernetzung über das Stromnetz nein, das ist hier nicht gewollt.
Szenenwechsel nach Walnut Creek: Hier fertigt Rag Wengerd auf seinem Hof Gürtel, Geldbeutel, Handy-Beutel (!) und allerlei mehr aus Leder. Neben dem Verkaufsraum befindet sich die kleine Produktionshalle mit den Lederbearbeitungsmaschinen, die meist aus den 1960er Jahren stammen. Eine Dürrkop-Adler-Industrienähmaschine gehört ebenso dazu wie eine solide Presse, aus der man seine Finger möglichst heraushalten sollte. Und das ist auch der Grund, warum der 51-Jährige mit Strom arbeitet: Weil sonst die beiden roten Knöpfe, die man während des Pressvorgangs drücken muss, damit sich die Hände an einem vernünftigen Ort befinden, nicht funktionieren würden.
Feine Unterschiede
Wie die Amish mit der Technik umgehen, ist eine Sache der jeweiligen Kirche, der sie angehören. Und weil jeweils 500 Mitglieder eine eigene, unabhängige Kirchengemeinschaft bilden, gibt es sehr viele Varianten davon. Studieren lässt sich dies an der Ausstattung der "Buggies", der kleinen, schwarzen Pferde-Kutschen, die neu bis zu 2400 Euro kosten.
Auch hier gibt es feine Unterschiede. Die ganz Konservativen etwa haben noch Gaslampen an ihren Kutschen, wenn sie abends unterwegs sind. Die Fortschrittlicheren, wenn man das so sagen will, nutzen eine elektrische Batterie. Wagemutige speisen die Batterie gar mit Solarzellen auf dem Dach.
Autonomie und Solidarität sind zwei wichtige Prinzipien im Amish Country. Statt auf Sozialversicherung setzt man auf die Hilfe der Gemeinde. Neben der Landwirtschaft sind viele Amish in handwerklichen Berufen tätig: Sie fertigen Möbel, produzieren Käse und nähen Quilts.
Mittlerweile kommen rund vier Millionen Besucher pro Jahr nach Holmes Country, um die Lebensweise der Amish, die Landschaft, die regional produzierten Lebensmittel und das Kunsthandwerk zu bestaunen. Und um in heimischen Restaurants wie dem "Dutchman" in Walnut Creek bodenständige Küche zu genießen, zum Beispiel Rindsbraten mit Kartoffelbrei.
Rudolf Stumberger, geboren 1956, arbeitet als Journalist und als freiberuflicher Dozent für Soziologie und Wirtschaft in München.