Anders als Europa bekommen die USA das Coronavirus dank einer erfolgreichen Impfkampagne langsam, aber sicher in den Griff. Zu verdanken haben das die Bürger allem voran staatlichen Interventionen.
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Es war eine geradezu klischeehaft amerikanische Szene, mit allem, was dazu gehört: Polizeigewalt, Waffen, Drogen, Sex - und eine Masse von Leuten, die sich bis zuletzt trotz einschlägiger Vorschriften weigerten, eine Maske aufzusetzen, um sich und andere vor dem Coronavirus zu schützen. Seit Beginn des "Spring Break", der traditionellen Frühjahrspause der amerikanischen Colleges und Universitäten, herrscht in Miami Beach der Ausnahmezustand. Trotz zahlreicher Warnungen der Stadtoberen, dem alljährlichen Spektakel heuer fernzubleiben, fielen seit vergangenem Wochenende Zehntausende in Süd-Florida ein, um es für ein paar Tage so richtig krachen zu lassen.
Nachdem sie sich selbst von den verhängten Ausgangssperren nicht beeindrucken ließen, passierte das Unvermeidliche. Am Ende standen zahllose blutige Nasen und gebrochene Knochen und sage und schreibe tausend Verhaftungen sowie hundert Anzeigen wegen Verstößen gegen das Waffengesetz. Die Ausschreitungen machten weltweit Schlagzeilen - zum Ärger der Administration von Präsident Joe Biden, die das Bild vom Amerikaner, der nicht an die Gefahr des Virus glaubt und es entsprechend ernst nimmt, endgültig begraben will.
Doppelt so viele Dosen
Das Problem: Die Regierung ist auch ein wenig Opfer ihres eigenen Erfolgs. Laut den aktuellen Zahlen der obersten Bundesgesundheitsbehörde (Center for Disease Control and Prevention/CDC) hat über ein Viertel jener 267 Millionen Amerikaner, die dafür in Frage kommen (alle über 16-Jährigen), mindestens eine Impfung bekommen; knapp über 13 Prozent sogar beide. Der EU-Schnitt für die erste Impfung liegt bei nur 11,3 Prozent.
Die Geschwindigkeit ist dermaßen hoch, dass kleinere Bundesstaaten wie Alaska und Mississippi bereits jetzt sämtliche Restriktionen aufgegeben haben. Heute kann sich dort jeder Erwachsene, der will, gratis seine "Shots" holen. Bis der Rest des Landes nachzieht, wird es aller Voraussicht nach nur mehr bis Mai dauern - spätestens. In seiner ersten formellen Pressekonferenz verdoppelte nun Biden sogar das Impf-Ziel auf 200 Millionen Dosen in den ersten 100 Tagen seiner Amtszeit. "Ich weiß, dass das ehrgeizig ist. Aber kein anderes Land der Welt ist überhaupt dem nahe gekommen", sagte der Präsident.
Politisch passt dieser Erfolg perfekt ins Narrativ Bidens, dass die USA die von Isolationismus, Korruption, Inkompetenz und Chauvinismus geprägte Ära seines Vorgängers Donald Trump zurückgelassen haben und endlich den Blick nach vorne richten ("America is back"). Die Ursachen dafür, warum die USA heute so gut bei der Immunisierung ihrer Bewohner dastehen, hat mehrere Gründe: die frühe Erkennung des Ernsts der Lage. Der politische Wille, der Bekämpfung des Virus allem voran mit Impfstoffen beizukommen. Und keinerlei Skrupel, dabei jegliche vorgeblichen ideologischen Vorbehalte über Bord zu werfen; vor allem, was das liebe Geld angeht.
Rückgriff auf Kriegsgesetze
Wie jüngst unter anderem die "Washington Post" attestierte, kam es im Laufe des vergangenen Jahres in Sachen Impfstoffentwicklung wie -beschaffung zu einem bemerkenswerten Rollentausch zwischen den traditionell eher staatsgläubigen Europäern und den tendenziell eher regierungsskeptischen Amerikanern. Sukkus der Analyse: Während sich die EU-Kommission und die Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten auf die Dynamik des freien Marktes verließen, um die Bevölkerung mit ausreichend Impfstoff zu versorgen, setzte die US-Regierung von Anfang an auf Dirigismus. Mit einer Mischung aus Zuckerbrot und Peitsche - sprich einerseits Milliarden an Sofort-Subventionen in enormer Höhe direkt an die Hersteller (zehn Milliarden Dollar) und andererseits massivem öffentlichem Druck von höchster Stelle (Trumps nunmehr selig ruhender Twitter-Account und Bidens stille Hintergrund-Diplomatie) - wurde den Pharmakonzernen von der Politik klargemacht, dass es keine Ausreden mehr für ein Versagen gab.
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für diese außergewöhnliche Interventionspolitik schöpften der republikanische Präsident wie sein demokratischer Nachfolger aus einem Relikt des Kalten Kriegs: dem 1950 unter dem Eindruck des Korea-Kriegs vom Kongress verabschiedeten Defense Production Act (DPA), der wiederum auf den War Powers Acts von 1941 und 1942 basiert. Alle drei räumen dem Präsidenten außerordentliche Rechte beim Zugriff auf die heimische Industrie ein. Stichwort: Kriegswirtschaft. Auch wenn sich Trump wie Biden bei der Inanspruchnahme dieser Rechte weitgehend zurückhielten beziehungsweise aufs Nötigste beschränkten, war Pharmariesen wie Pfizer und Moderna oder Johnson & Johnson von Beginn an klar, was es geschlagen hatte.
Wo Biden Trump ähnelt
Ein weiterer Faktor spielt auch der traditionell stark ausgeprägte amerikanische Nationalismus. Was die Verteilung der verfügbaren Dosen angeht, passt zwischen Trumps (von Ronald Reagan geklautem) Credo "America First" und der Biden-Administration kein Blatt Papier. Motto: Bevor der Rest der Welt drankommt, müssen zuerst alle Bürgerinnen und Bürger des eigenen Landes geimpft werden. Auch wenn es dabei vor allem in großen Bundesstaaten wie Kalifornien, New York oder Texas gelegentlich zu logistischen Problemen kommt, kann sich jeder Amerikaner gewiss sein, dass so gut wie keine Dosis, die im Land hergestellt wurde, nämliches verlässt.
In der Impfstatistik liegen bevölkerungsarme Bundesstaaten wie Alaska (rund 740.000 Einwohner) und North Dakota (760.000) ganz vorne. Dort ist schon fast ein Drittel der Leute in den Genuss mindestens einer Dosis gekommen. Selbst in Wyoming (580.000), das als Hochburg der Impfskeptiker gilt, sind bereits ein Fünftel der Bevölkerung geimpft worden.
Tests oft kein Thema mehr
Auch wenn es andernorts in den USA noch Luft nach oben gibt - viel ist es nicht mehr. In den Metropolen an den Küsten gibt es praktisch kein Football-, Baseball-, Basketball- und Eishockeystadion mehr, das in der Zwischenzeit nicht in ein gigantisches Impfzentrum umgewandelt wurde. Im Inneren der Katakomben dieser - sich fast ausnahmslos in Privatbesitz befindlichen - Sport-Tempel tummeln sich seit Anfang des Jahres zehntausende professionelle wie freiwillige Helfer, die im Minutentakt Spritzen verabreichen.
Nachteil: Testungen sind in weiten Teilen des Landes heute de facto kein Thema mehr, weil jeder und jede Impfwillige nur mehr darauf wartet, an die Reihe zu kommen. Bisher sind in den USA rund 550.000 Menschen dem Coronavirus zum Opfer gefallen. Wie viele Millionen an den Nachwirkungen einer Infektion mit Covid-19 leiden - manche davon, so wird befürchtet, für den Rest ihres Lebens -, ist nicht bekannt.