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Opposition und Reformer sind die Profiteure des Spesenskandals in Großbritannien

Von Alexander U. Mathé

Analysen

Diese Erschütterung der britischen Politik kommt einem Vulkanausbruch gleich: Erstmals seit mehr als 300 Jahren wurde der Präsident des Unterhauses aus dem Amt gejagt; erstmals seit mehr als 350 Jahren wurden zwei (nicht ganz) ehrenwerte Lords des Oberhauses suspendiert. | Das politische Erdbeben birgt ungeahnte Möglichkeiten: Es hilft einerseits der Opposition, die Regierung weiter unter Druck zu setzen. Andererseits erhalten die Reformkräfte in England neuen Aufwind.


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Im Spesenskandal bewies David Cameron, Chef der konservativen Opposition, am schnellsten, dass er das politische Einmaleins aus dem Effeff beherrscht. Sofort forderte er den Rücktritt von Premier Gordon Brown, nachdem die konservative Zeitung "Daily Telegraph" die vertraulichen Unterlagen zu publizieren begonnen hatte. Dabei standen hauptsächlich Abgeordnete von Browns Labour-Partei im Rampenlicht. Damit erhöhte Cameron nicht nur den Druck auf den seit langem unbeliebten Premier, sondern lenkte auch gleich von etlichen seiner Parteifreunde ab, die ebenfalls tief in die Staatskasse gegriffen hatten.

Auch im nächsten Schritt kam er Brown zuvor und erklärte, mit aller Härte gegen Kollegen vorgehen zu wollen, die sich bereichert hätten. Der Premier konnte mit so einer Ankündigung lediglich nachziehen.

In der Folge dürften Camerons Tories weiterhin die Nase vorne haben. Denn der Sieg bei den bevorstehenden Europawahlen müsste den Konservativen so gut wie sicher sein. Gordon Brown hingegen wird alle Hände voll damit zu tun haben, die aufgebrachte Bevölkerung zu beruhigen.

Dies könnte vor allem verfassungsrechtliche Reformen bedeuten - oder zumindest deren Ankündigung. Denn bloß mit mehr Transparenz bei den Spesen der Parlamentarier geben sich die Briten längst nicht mehr zufrieden.

Zu Beginn seiner Amtszeit als Premierminister hatte Brown bereits konstitutionelle Reformen gefordert - allerdings nicht in dem Ausmaß, in dem sie derzeit unter Experten, Politikern und Journalisten zirkulieren. Die Wünsche reichen von der Einführung des Verhältniswahlrechts über definierte Legislaturperioden (derzeit kann die Regierungspartei innerhalb von fünf Jahren nach Belieben Wahlen ausrufen) bis hin zu Volksabstimmungen nach Schweizer Vorbild.

Was am Ende herauskommt, hängt vorerst vom Reformwillen Browns ab. Klar ist jedoch, dass sich ein dermaßen idealer Moment für eine Reform nicht mehr so bald bieten wird. Denn dass sich etwas ändern muss, darin sind sich derzeit wohl fast alle Briten einig.

Eine andere Frage ist, ob der Atem für eine Verfassungsreform reichen wird. Ausschüsse werden gebildet, Unterausschüsse beauftragt und Arbeitsgruppen mit Details befasst werden. Bis man da in konkrete Sphären vorstößt, könnte schon bald niemand mehr wissen, worum es eigentlich ursprünglich ging.

analyse@wienerzeitung.at