Der Politologe Jan-Werner Müller spricht im Interview über Populismus, Wohlfahrts-Chauvinismus und die Krise der Demokratie.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Wiener Zeitung": Die Beziehungen von Ländern wie Deutschland oder auch Österreich zu Ungarn sind derzeit nicht die allerbesten. Was könnte Europa aus Ihrer Sicht im Umgang mit Viktor Orbán und seiner Partei Fidesz tun?Jan-Werner Müller: Ein Akteur, der sehr viel mehr tun könnte, wäre die europäische Volkspartei, die sich aber letztendlich wieder hinter Orbán gestellt hat. Da fehlt schlicht der Wille. Es sollte doch mittlerweile große Zweifel geben, ob Fidesz noch eine normale, christdemokratische oder konservative Partei ist, aber letztlich deckt die Europäische Volkspartei Fidesz.
Warum?
Ich fürchte, da steckt ein größeres strukturelles Problem dahinter: Es ist ja einerseits schön, dass das Europäische Parlament mehr Macht bekommt und dass die Wahlen zum Europaparlament immer wichtiger werden. Aber ein nicht wirklich bedachter Nebeneffekt dieser Aufwertung des Europaparlaments ist, dass nun die Zahl der Abgeordneten im Parlament wirklich entscheidend ist. Das war vor 20, 30 Jahren nicht der Fall. Heute muss es sich die Europäische Volkspartei zweimal überlegen, bevor sie darüber nachdenkt, eine ganze Partei aus der Fraktion zu werfen. Mehr Demokratie auf supranationaler Ebene führt hier zu weniger Demokratie auf nationaler Ebene. Die EU-Kommission hat zwar angekündigt, im Falle Ungarns aktiver werden zu wollen, die schärfste Waffe des EU-Vertrages, Artikel 7, mit dem man im schlimmsten Fall ein Mitgliedsstaat suspendieren und diesem Staat das Stimmrecht entziehen kann, wird aber wohl im Schrank bleiben. Denn dafür sind sehr deutliche Mehrheiten notwendig und es gibt im Moment keine Anzeichen dafür, dass eine größere Anzahl von Mitgliedstaaten mitziehen würde. Zudem: Wie sähe die Exit-Strategie aus so einem Prozess aus?
Sie denken an den Fall Österreich im Jahr 2000 von Schwarz-Blau?
Damals hat man - in Wien erinnert man sich sicher noch gut daran - den sogenannten "Weisenrat" ins Leben gerufen, der nach einiger Zeit gemeint hat, das passe schon irgendwie wieder. Und dann war alles wieder gut.
Sie haben in Ihrem Buch "Wo Europa endet - Ungarn, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie" den Vorschlag gemacht, dass eine Kommission die EU-Staaten regelmäßig auf die Erfüllung der "Kopenhagener Kriterien" - dazu gehören Rechtsstaatlichkeit und Demokratie - hin überprüfen und im Falle des Falles Kohäsionsfonds und andere EU-Mittel auf Eis legen soll.
Wir brauchen einen EU-Wachhund, der genau diese "Kopenhagener Kriterien" überprüft und der auch Sanktionsmöglichkeiten hat: Diese Kommission müsste etwa "illiberalen Demokratien" - der Begriff, auf den Viktor Orbán so stolz ist - die Mittel kürzen können, weil es ja plausibel ist, anzunehmen, dass viele dieser Mittel dem Regime direkt oder indirekt zugutekommen. Das Problem ist aber, dass dies etwas derart Weitreichendes ist, dass es dafür einer Vertragsänderung bedürfte. Dass derzeit Ungarn einer solchen Vertragsänderung niemals zustimmen würde, liegt auf der Hand. Insofern ist es besonders unglücklich, dass die derzeitige Krise von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in diesem Moment mit anderen externen und internen Krisen der EU zusammenfällt. Sehr viele Politiker mögen zwar den Wunsch verspüren, in der Causa Ungarn mehr zu unternehmen, haben aber das Gefühl, dass sie im Moment überhaupt kein politisches Kapital mehr übrig haben. Aber letztlich ist diese Frage entscheidender als die Debatte um die Eurokrise.
Ein Scheitern des Euro wäre aber wohl doch eine Tragödie?
In jedem Gemeinwesen darf Politik auch mal scheitern. Und dieses Scheitern darf man kritisieren dürfen, ohne gleich als Anti-Europäer dazustehen. Was jedenfalls gar nicht geht, ist, dass ein Staats- oder Regierungschef fundamental als Geisterfahrer gegen die europäischen Werte unterwegs ist. Solche Dinge sind bedeutender für die Europäische Union als die Frage, ob 60 Prozent Staatsverschuldung okay ist oder schon zu viel. Insofern ist die Frage, wie man mit Viktor Orbáns Ungarn umgeht, bedeutsamer für die Union als die Euro-Krise.
Sehen Sie eigentlich Parallelen zwischen dem Populismus des ungarischen Premiers Orbán und des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan?
Orbán und Erdogan sind Populisten eines ganz bestimmten Schlags. Sie sind nicht Populisten in dem Sinne, dass sie dem Volk nach dem Mund reden, sondern sie stellen den Anspruch, dass nur sie und ihre Parteien, Fidesz und AKP, das wahre Volk vertreten. Orbán hat ja 2002, als er die Wahl verloren hat, gesagt, "die Nation kann nicht in Opposition sein". Ergo sieht er sich als Kopf der Nation, andere legitime Repräsentanten gibt es seiner Auffassung nach nicht. Und als Erdogan im vergangenen Jahr zum Präsidentschaftskandidaten gekürt wurde, hat er seinen Kritikern entgegengehalten: "Wir sind das Volk, wer seid eigentlich ihr?" Deutlicher kann man es eigentlich gar nicht sagen, dass man keinen legitimen politischen Wettbewerb will oder die Opposition nicht anerkennt.
Das macht der russische Präsident Wladimir Putin ebenfalls nicht.
Eine interessante Parallele zu Russland: Wenn sich Widerstand aus der Zivilgesellschaft formiert, sagt man im Kreml sofort: Das ist gar nicht die Zivilgesellschaft. Das sind ausländische Agenten. Wenn es nämlich einen groß angelegten Protest geben würde, der als legitim verstanden würde, dann würde man den moralischen Alleinvertretungsanspruch verlieren. Dann wäre klar: Da gibt es in der Gesellschaft noch ganz andere, die auch ganz andere Wünsche haben. Über die Maidan-Proteste in Kiew hat Moskau gesagt: Da steckt die CIA dahinter. Und in der Türkei hieß es nach den doch umfangreichen Gezi-Park-Protesten: Das seien "gar keine echten Türken" gewesen.
Welche Rolle spielt ein gewisser Wohlfahrts-Chauvinismus - Marke: "unser Land für unsere Leut" - bei solchen Parteien?
Natürlich spielt das eine Rolle. Und das nicht nur in Europa, sondern auch in den USA. Dort sieht sich die rechtspopulistische Tea-Party-Fraktion der republikanischen Partei als "weiße Bürgerrechtsbewegung".
In Deutschland hatten rechtspopulistische Parteien oder Parteien am rechten Rand bisher noch keinen Erfolg. Warum ist das so?
Die Alternative für Deutschland, die AfD, ist keine populistische Partei. Sie ist vor allem eine Anti-Euro-Partei, aber je nachdem, wie sie sich weiter entwickelt, kann sie zu einer rechtspopulistischen werden. Ich denke, es ist ein Fehler zu sagen, jeder, der die Euro-Politik kritisiert, ist automatisch Rechtspopulist. Um Populist zu sein, muss man diesen antipluralistischen und moralisierenden Anspruch haben. Populisten sagen: "Nur wir sind legitim, die anderen sind illegitim." Wenn man in einer Demokratie mit der Parole antritt: "Wir sind das Volk", dann hat das einen ausschließenden Charakter. Wenn man aber sagt: "Wir sind auch das Volk, wir fühlen uns vergessen, wir als einer bestimmten Schicht, als einer bestimmten Religion zugehörig fühlen uns unterrepräsentiert", dann ist das legitim. Aber zu sagen, wir sind die einzig Wahren und die anderen sind ja gar nicht richtig "die Unsrigen", ist eine klare Überschreitung der Grenze zum Populismus.
Zur Person
Jan-Werner Müller
studierte Politikwissenschaft an der FU Berlin in London, am St Antony’s College der Universität Oxford und an der Princeton University. Seit 2005 lehrt er in Princeton und ist regelmäßig Gast am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.