Der ungarische Philosoph G. M. Tamás über den Demokratieabbau in seinem Land und die Krise der europäischen Linken.
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Wien. Mangelnde Solidarität - so lautet der Vorwurf Nummer eins gegen einige osteuropäische EU-Staaten, allen voran Ungarn. Der marxistische Philosoph und Kapitalismuskritiker Gáspár Miklós Tamás, 1988 Mitbegründer des linksliberalen Bundes Freier Demokraten, gilt als einer der schärfsten Kritiker des ungarischen Premiers Viktor Orbán und dessen Regime. Auf Einladung des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) sprach er in Wien darüber, wie es mit Ungarn, aber auch in anderen Ländern so weit kommen konnte.
"Wiener Zeitung": Sie leben in einem Land, das von einem Mann beherrscht wird, der die Abschaffung der liberalen Demokratie angekündigt hat und das auch durchsetzt. Wie weit ist das bereits umgesetzt?
Gáspár Miklós Tamás: Das ist alles schon passiert. In den ersten Jahren dieses Jahrtausends hat Orbáns Partei eindeutig die Umsetzung des illiberalen Rechtsstaats mit einer autoritären Ordnung vorgeschlagen und damit großen Erfolg gehabt. Die Bevölkerung ist zwar nicht so konservativ, wie man manchmal annimmt, aber sie ist bitter enttäuscht vom ersten Jahrzehnt der sogenannten Neuen Demokratie in Osteuropa. Wir wollten einen Neubeginn, das wurde gegen die Demokratie benutzt. Die Verwüstung der osteuropäischen Wirtschaften und Kulturen in den 1990er Jahren war scheußlich, so konnte das nicht weitergehen. Und ich sage das als einer der Gründerväter der ungarischen Republik und der osteuropäischen Demokratie. Ich bin nicht besonders stolz darauf.
Warum nicht?
Es war nicht nur kein Erfolg, es war eine Pleite. Ich habe zwar nie wirklich Macht besessen, ich war Oppositionsabgeordneter, aber wir haben eine wirklich unsympathische Gesellschaft geschaffen, voller Armut und Arbeitslosigkeit und ohne Solidarität und Zusammenhalt. Der wütende Rassismus erklärt sich zum Teil aus einem Mangel an Nationalbewusstsein. Arme Bevölkerungen leiden unter Selbsthass, das mündet in Hass des Anderen. Herr Orbán hat das nicht erfunden, sondern sehr geschickt benutzt.
Warum ist das mit der liberalen Demokratie in Ungarn dermaßen schiefgegangen?
Es gab völlig unrealistische Erwartungen an den liberalen Kapitalismus. Aristoteles hat gesagt, Demokratie ist Gleichheit der Ungleichen, und das ist auch heute die Definition. Demokratie ist keine Macht des Volkes. Sie ist das Gleichgewicht zwischen geteilten und ungleichen Gruppen. Man arbeitet mit anderen zusammen, auf der Basis von anerkannter und legitimierter Ungerechtigkeit. Das haben wir damals nicht erkannt. Wir haben diese liberalen Illusionen geteilt, die auch in westlichen Gesellschaften nie wahr gewesen sind. Doch dort hatte man Erfahrung darin, mit diesen Problemen umzugehen, auch wegen der langen Vergangenheit und wegen wirtschaftlichem Erfolg. Die waren immer reicher als wir.
Der linke Traum von sozialer Gerechtigkeit ist es dann aber auch in der westlichen Gesellschaft nicht geworden ...
Es sind revolutionäre Träume. Die Jakobiner und Bolschewiki haben zumindest versucht, ihre Ideale zu verwirklichen - auch, wenn ihnen das nicht gelungen ist. Unsere liberale Generation in Osteuropa hat das nicht getan. Sie haben sowohl ihre Ideale als auch ihre Betriebe verkauft. Was will man da erwarten? Natürlich hassen die Leute jetzt die liberale Demokratie mehr als alles andere, denn sie sind enttäuscht. Das waren ihre eigenen Träume und kein westlicher Import. Wir waren leidenschaftlichere Liberale als Engländer und Holländer, weil das neu für uns war. Es war eine Transformation, eine Revolution. Friedliche Revolutionen sind immer romantisch. Es gibt politische Abenteurer, die nicht besonders menschenliebend sind und daraus große Macht für sich generiert haben, aber das wird nicht anhalten. Orbán kann vielleicht noch einige Wahlen gewinnen, aber sein Regime wird nicht überleben. Die Frage ist, was danach kommt.
Was glauben Sie, was auf Orbán folgt?
Diese Frage stellt sich nicht nur für Ungarn. Was kommt nach Serbiens Premier Aleksandar Vucic, nach der Herrschaft der kroatischen und rumänischen Rechten, nach Bulgariens Premier Boiko Borissov und diesen Monstern? Was kommt nach Russlands Präsident Wladimir Putin? Das wissen wir nicht, weil die Oppositionskräfte heute noch inspiriert und beseelt sind von nicht mehr aufzufindenden Parallelen mit dem Westen. Sie träumen davon, die liberalen Reformen der 90er Jahre weiterzuführen, und sie sind verhasst. Sie haben keine Chance und sollen meiner Meinung nach auch keine haben. Wir kennen die Zukunft nicht, auch nicht in Österreich. Aber in armen Ländern ist das natürlich noch schlimmer. Wir sind nicht stabil. Es können auch noch fürchterlichere Sachen nachkommen, neben denen Orbán aussieht wie ein Lämmchen.
Wo ist die Linke in Ungarn?
Wo ist die Linke anderswo? Wo ist die Linke in Österreich? In Ungarn gibt es sie nicht mehr. Die sozialistische Partei ist eine konservative, moderate Rechtspartei und hat einige Sympathien für die Facharbeiter und so weiter. Aber sie sind sehr gemäßigte Demokraten. Im Vergleich zur Mehrheit sind sie vielleicht links, aber auch Dollfuß war links von Hitler.
Könnte sich eine linke Kraft entwickeln?
Ich glaube nicht. Die könnten die Wahlen ohnehin nicht gewinnen. Entweder wird ein Nachfolger aus den Reihen der neuen Rechten kommen oder es bilden sich neue noch unbekannte Kräfte weiter links, die wir noch nicht kennen. Vielleicht sind ihre Anführer heute zehn Jahre alt. Das ist leider grundsätzlich überall so. Schauen Sie sich die französische sozialistische Partei an. Und was heißt heute SPÖ? Die Partei ist theoretisch links orientiert, aber das ist keine politische Richtung, sondern eine Tradition.
Sehen Sie, abgesehen von Angela Merkels "Wir schaffen das", irgendwo in Europa Beispiele dafür, dass die in den EU-Verträgen festgelegten Werte von Zusammenhalt noch irgendeine Bedeutung haben?
Solidarität in der Europäischen Union hat zweierlei gemeint: Wohlfahrtsstaat und Frieden durch die Zusammenarbeit der Nationalstaaten. Das ist natürlich nicht die Solidarität einer kämpfenden Menschheit für transzendente Zwecke der Befreiung aller. Was heute unter Solidarität verstanden wird, ist Toleranz und Mitleid angesichts von Ungleichheit. Ich toleriere die Milliardäre, die Milliardäre tolerieren mich. Das ist gut. Ich scherze, aber nur halb. Mitleid bedeutet ein Gefühl der Wohlhabenden und Mächtigen für leidende Schwache, Toleranz heißt auch Zusammenhalt der Ungleichen. Solidarität ist mit der Idee der Gleichheit verknüpft. Solidarität war ein Kampfbegriff etwa der Arbeiter- und Frauenbewegungen. Wir haben einen Wunsch und einen Traum von Solidarität. Auch mein Herz klopft schneller, wenn ich daran denke. Aber das ist nicht die Realität.
Glaubt Orbán an die Solidarität?
Nein, er hat wie jeder wirkliche Rechte einen sehr starken Begriff von Konflikt. Er glaubt an Krieg. Vielleicht an einen unblutigen Krieg, aber an Konflikt und Macht und Ungleichheit. Und in seinem Sinne ist das die Macht der edleren Rasse und der wenigen Auserwählten. Er ist aber zumindest aufrichtig, er schafft keine Illusionen von Freiheit und Demokratie und glaubt auch nicht daran. Es geht um Reichtum und Macht. Das ist sehr aufrichtig und brutal und erfrischend manchmal. Wir befinden uns in finsteren Zeiten.
Gáspár Miklós Tamás, Jahrgang 1948, ist ein ungarischer Philosoph und marxistischer Intellektueller. Von 1989 bis 1994 saß er für den Bund Freier Demokraten (SZDSZ) im ungarischen Parlament, zwischen 2010 und 2011 war er Präsident der oppositionellen Green Left.