Zum Hauptinhalt springen

"Orbán spielt Retter des Abendlandes"

Von Siobhán Geets

Politik
"Der Nationalismus hat in Ungarn sehr starke Wurzeln", erklärt Paul Lendvai.
© Stanislav Jenis.

Der Publizist Paul Lendvai über den wachsenden Nationalismus in den postkommunistischen EU-Staaten.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

"Wiener Zeitung": Herr Professor Lendvai, was geht in Ihnen vor, wenn Sie dieser Tage am Keleti-Bahnhof in Budapest stehen oder Bilder von der serbischen Grenze sehen?

Paul Lendvai: Ich bin vergangene Woche nach Ungarn gefahren, zum Geburtstag eines Freundes, eines berühmten Males. Unterwegs sahen wir schon mehrere hundert Flüchtlinge. Der ORF rief mich an und bat mich, Live aus Budapest einen Beitrag für die Zib2 zu senden. Wir kamen am Keleti-Bahnhof an, dort schauten hunderte Menschen auf die Flüchtlinge herab, die dort lagen, am Bahnhof übernachteten. Es war wie in einem Theater! Während ich darauf wartete, dass ich auf Sendung kam, trafen rechtsextreme Gruppen mit ihren Flaggen ein und sie griffen Asylwerber an. Einige erkannten mich, ich wurde beschimpft: Als Vaterlandsverräter, Nestbeschmutzer usw. Das war kein angenehmes Gefühl, denn ich hatte Angst, dass sie auch mich angreifen. Dieser Auftritt vor dem Ostbahnhof in Budapest war für mich der spannendste Auftritt in meinem langen Leben als Journalist und Fernsehkommentator – unvergesslich! Ich musste auch an meine eigene Flucht denken: 1944, der berühmte Todesmarsch von 50.000 Menschen in den letzten Wochen des Krieges nach Österreich.  Da war ich als 15-Jähriger dabei. Dann, 1956, kam ich von Ungarn über Polen nach Wien.

Werden Sie nicht manchmal zornig, wie mit den Menschen umgegangen wird?

Meine Frau ist zornig, sie ist jünger und hat länger in Ungarn gelebt als ich. Ich bin sehr deprimiert, wenn ich diese Bilder sehe. Die ungarische Regierung hat nicht einmal den Versuch unternommen, den Menschen zu erklären, wieso die Flüchtlinge kommen. Das sieht aus, als wären sie die Feinde Ungarns, das erzeugt natürlich auch feindliche Gefühle bei manchen Ungarn. Bei mir hat das alles viel ausgelöst. Diese Situation bedeutet nicht nur für die Zukunft Ungarns eine Gefahr, sondern für die Zukunft ganz Europas.

Ungarn will nun tatsächlich das Heer an der serbischen Grenze einsetzen, der Grenzübertritt soll fortan strafbar sein. Der Bischof von Ungarn wehrt sich sogar öffentlich gegen den Appell des Papstes, Flüchtlingen zu helfen, weil das Schlepperei sei, und eine ungarische Journalistin tritt Flüchtlingskinder  und stellt einem Mann das Bein. Europa fragt sich: Was ist los mit diesem Land?

Über solche Dinge wird nicht in dieser Form berichtet. Es gibt in Ungarn eine Medienhegemonie der rechten und konservativen Seite. Die regierungsfreundlichen Journalisten sagen, dass viele Menschen im Westen mit Premier Viktor Orbán einverstanden sind. Gestern war ein Artikel in der regierungsnahen Zeitung Magyar Hirlap, in dem Angela Merkel als FDJ-Sekretärin (Die Freie Deutsche Jugend war ein sozialistischer Jugendverband in der DDR, Anm.), also als jungkommunistische Funktionärin und DDR-Mädchen, bezeichnet wurde. Die fremdenfeindliche Stimmung ist in den letzten Wochen und Monaten von der Regierung und ihrem riesigen Apparat erzeugt worden. Erstens gibt es eine Herausforderung von rechts, die sehr stark ist. Die rechte Partei Jobbik ist viel stärker als die gespaltene linke oder die liberale Opposition. Zweitens ist die Abneigung gegen Fremde tief verwurzelt. Es gibt 700.000 bis 800.000 Roma in Ungarn, sie leben hier seit Jahrhunderten. Dann gibt es jetzt diesen Stacheldrahtzaun an der Grenze zu Serbien. Das ist ein Witz, das Dümmste, was sie machen konnten. Es ist eine Alibiaktion und hindert die Leute nicht daran, nach Ungarn zu kommen. Der Bau des Zauns hat dem Flüchtlingsstrom einen Auftrieb gegeben. Ab dem 15. September werden die Leute verhaftet oder zurückgeschickt. Deshalb versuchen viele, noch davor ins Land zu kommen. Ungarn ist zwar nicht verantwortlich für die Völkerwanderung, es ist eine globale Situation, aber Ungarn ist durch seine Politik in den Mittelpunkt gerückt.

Wo bliebt die ungarische Zivilgesellschaft?

Es gibt viele hunderte Menschen, Freunde von uns, Schauspieler, Ärzte, Ingenieure, die versuchen, zu helfen, aber sie sind nicht organisiert wie in Nickelsdorf oder am Westbahnhof oder in Deutschland. Als ich vergangene Woche in Budapest war, spielte dort Ungarn gegen Rumänien. Die Ungarn haben seit 34 Jahren kein Match mehr gewonnen. Das hat die Leute natürlich mehr interessiert als das Schicksal der Flüchtlinge. Bei der Feier des Malers in Budapest waren viele Intellektuelle. Unter ihnen überwiegt das Gefühl der Scham, sie schämen sich wegen des schlechten Image Ungarns. Es gibt zwei oder drei verschiedene Ungarn: Das offizielle unter Orbán, dann das schweigende Ungarn, das gleichgültig ist sowie jenes ¬ - und das ist die Mehrheit - das Orbáns Politik gegen die Flüchtlinge unterstützt. Laut manchen Schätzungen unterstützen bis zu zwei Drittel seine Politik. Vergessen Sie nicht, dass es in Ungarn viele arme Menschen gibt und viel Propaganda. Die Regierung hängt überall Plakate auf: Komm nicht nach Ungarn, nimm den Ungarn nicht ihre Jobs weg, beachte unsere Gesetze! Das eignet sich wunderbar, feindliche Gefühle gegen die Fremden zu erzeugen.

Ihr jüngstes Buch von 2010 ist aktueller denn je. Sie sprechen darin von Ungarn als "verführbare Nation". Was meinen Sie damit?

Damit meine ich, dass der Nationalismus in Ungarn sehr starke Wurzeln hat, vor allem, weil durch den Trianon-Vertrag nach dem Ersten Weltkrieg ein Drittel der Bevölkerung und des Landes verloren ging. Aus der Führungsrolle Ungarns innerhalb des ungarischen Teils der Monarchie wurde ein amputierter Staat. Das hat bis zum Zweiten Weltkrieg und darüber hinaus Generationen beschäftigt. Der Nationalismus wurde allen Kindern eingeimpft, nach dem Krieg im Kommunismus verdrängt, bevor er 1989 wieder hervorkam.  Seit  dem Sieg der Fidesz 2010 wird der Nationalismus besonders gepflegt. Ich möchte den  Philosophen Sándor Radnóti zitieren, der sagt: "Das Orbán-Regime verkörpert durch seine Unbarmherzigkeit und Grausamkeit das, was das Schlimmste in Europa ist." Dazu kommt noch der Dilettantismus. Man wusste, was kommen würde, aber man war nicht vorbereitet. Die Plakate und Kampagnen haben die Lage noch verschärft. Wenn Polizisten sich den Flüchtlingen mit Gummihandschuhen und Masken nähern, dann erzeugt das nicht nur einen schlechten Eindruck im Ausland, es verbreitet auch Angst in Ungarn. Alle diese Dinge tragen zur Verschärfung der Lage bei. Orbán ist jetzt in seinem Element: Er will in Europa als der Mann gelten, der die Realität erkannt hat, als ein Kämpfer, als Retter Europas. Er sagte wörtlich, dass er die Grenze hermetisch abriegeln will und damit nicht nur Ungarn, sondern auch den Westen vor den Horden rettet, die da kommen. Er inszeniert sich also als Retter des christlichen Abendlandes. Es gibt in Europa – ich spreche nicht von der Türkei oder Weißrussland  - keinen  anderen demokratischen Staat, in dem der Ministerpräsident und Führer der Mehrheitspartei so eine totale Machtkompetenz hat wie Orbán in Ungarn. In den Medien gibt es keine offene Kritik an ihm. Auf Kritik aus dem Westen regiert Ungarn beleidigt: Wir wurden immer im Stich gelassen, 1956, 1848 und auch jetzt: Anstatt sich bei uns zu bedanken, werden wir kritisiert.

Es zieht sich eine Kluft durch Europa, der Graben verläuft zwischen Ost und West:  Wieso sind es gerade die post-kommunistischen Staaten, die keine Hilfsbereitschaft zeigen?

Beim Treffen der Regierungschefs Polens, Tschechiens, der Slowakei und Ungarns in Prag wurde Orbáns harte Haltung begrüßt. Sie wird von den meisten postkommunistischen Staaten geteilt. Politische Farben spielen dabei keine Rolle: Orban bezeichnet sich als Christdemokrat, Robert Fico, der Premier der Slowakei, als Sozialdemokrat. Beide vertreten in dieser Frage aber die gleiche Meinung und werden darin von der Bevölkerungsmehrheit unterstützt. Auch der sogenannte sozialdemokratische Ministerpräsident Tschechiens vertritt diese Ansicht. Und die polnische Ministerpräsidentin Ewa Kopacz sagt jetzt, Polen nimmt vielleicht 2.500 auf. In einem Land mit 38 Millionen Einwohnern! Warum? Weil im Oktober die Wahlen kommen und die Opposition die gleiche Linie vertritt wie Orbán. Die baltischen Staaten haben eine Russifizierung durchgemacht, da wurden 30 Prozent russische Einwohner angesiedelt. Die Esten und Letten und Litauer wollen nicht noch mehr Fremde haben. Wir, die Nettozahler wie Österreich, Deutschland und die Niederlande, wir subventionieren diese Länder. 24 Milliarden für Ungarn, fast 40 Milliarden für Polen.

Gerade deswegen sagen viele Europäer: Wo bleibt die Dankbarkeit, wo die Solidarität?

Ich habe mir erlaubt, im ungarischen Fernsehen Bruno Kreisky zu zitieren, der gesagt hat: Dankbarkeit ist in der Politik keine Kategorie. Das gilt auch die die internationalen Beziehungen. Es gibt keine Dankbarkeit!

Jean-Claude Junckers Vorschlag für eine verbindliche Asyl-Quote liegt auf dem Tisch. Am Montag treffen sich die EU-Innenminister. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass umgesetzt wird, was Juncker am Mittwoch vorgeschlagen hat?

Es wäre ein Wunder, wenn ein Durchbruch gelänge. In 28 Staaten verbindliche Beschlüsse durchzusetzen, das wird sehr schwierig. Vielleicht ist es unmöglich. Juncker spricht davon, 160.000 Menschen zu verteilen, aber das sind ja keine Güter, die man herumschicken kann. Wenn sie nach Deutschland wollen oder nach Schweden, dann kann man sie nicht in die Slowakei oder nach Tschechien schicken. Sie wissen, dass sie dort nicht willkommen sind. Man kann die Staaten und die Flüchtlinge zu nichts zwingen. Ich glaube es werden Teillösungen getroffen werden und protokollarische Stilübungen stattfinden. Verdrängung und Verschönerung, eine Schadenbegrenzung. Sie werden kleine Zugeständnisse machen wie zuletzt die Polen, ich glaube aber nicht, dass ein Durchbruch gelingen kann. Die EU hat unterschätzt, wie unglaublich diese Dynamik jetzt ist. Die Entscheidungsfindung kann mit der Dynamik nicht Schritt halten. Ich bin in jeder Hinsicht ein Pessimist. Ich fürchte, dass auch die Stimmung in Österreich, Deutschland und Frankreich kippen könnte. Die rechten Parteien stehen überall bereit. Ich bin aber sehr froh, dass Österreich jetzt so human reagiert hat. Das erinnert mich an das freundliche Österreich von 1956, 1968, 1991. Für mich ist es aber gleichzeitig traurig, weil es mich daran erinnert, wie mein Herkunftsland nun in der Weltöffentlichkeit dasteht.

Sie sind 1956 aus Ungarn geflohen, viele Ungarn haben damals Asyl im Westen erhalten. Ist es zu lange her, dass Tschechen, Ungarn, Polen Zuflucht im Ausland gesucht haben, ist die Erinnerung daran verblasst?

Die Flüchtlinge von damals erinnern sich sehr wohl, sie haben Verständnis. Aber viele andere erinnern sich nicht, was 1956 in Ungarn war oder 1968 in der Tschechoslowakei. Die postkommunistischen Staaten können weder wirtschaftlich mit dem Westen schritthalten noch haben sie ihre Vergangenheit aufgearbeitet – weder die kommunistische noch die Zwischenkriegszeit, wo in allen diesen Ländern autoritäre Regime herrschten.

Die Ablehnung scheint sich vor allem gegen  den Islam zu richten...

Nicht nur, sie richtet sich gegen andere Hautfarben, andere Kulturen. Es kamen seinerzeit ja auch Muslime aus Bosnien, aus ganz Jugoslawien. Das war aber etwas Anderes. Die teils berechtigte Angst vor dem Islam spielt aber eine große Rolle. Ich glaube in erster Linie ist es die Erbschaft des Kleinstaatenimperialismus, des Nationalismus, des Provinzialismus: Die Menschen wollen sich nicht vermischen, sie haben ihre eigenen Probleme, etwa mit den Roma und Sinti. Die Angst vor Russland spielt auch eine Rolle. Es gibt nicht nur keine Solidarität, sondern auch keine Empathie.

Das betrifft ja auch die Kirche.

Vergleichen Sie die Haltung von Kardinal Schönborn mit der des Erzbischofs Budapests. Er sagte, wir dürfen niemanden aufnehmen, denn dann sind wir Schlepper. Es gibt noch einen Bischof in Südungarn, der meinte, der Papst habe keine Ahnung. Alle diese Faktoren spielen eine Rolle.

Einige sagen, die Ungarn haben Angst um ihre Identität, diese sei scheinbar seit dem Ende des Kommunismus nicht stark genug gewachsen, um andere Kulturen zu verkraften, ohne sich bedroht zu fühlen...

Das glaube ich nicht. Sie haben jetzt ihre nationale Identität. Es gibt auch in Deutschland ein Ost-West-Gefälle. Im Osten, in der ehemaligen DDR, werden Flüchtlingsheime angezündet. In Ungarn und anderen Staaten herrscht die Ansicht, dass der Rest der EU ihnen diktieren will: Sie geben uns Geld, aber wir haben es auch verdient, denn wir haben gelitten, während die Menschen im Westen im Überfluss gelebt haben. Sie wissen, dass der Westen sie nicht aus karitativen Gründen fördert, sondern weil er Geld machen will. Es gibt also viele Faktoren: Wirtschaftliche, politische, nationale, historische, psychologische und emotionale. Hinzu kommt die Sehnsucht nach dem Starken Mann – die erfüllt Orbán. Man darf den Einfluss der Ereignisse in Ungarn nicht unterschätzen. Wir stehen erst am Anfang, nicht am Ende, dieses Stückes.

Zur Person
Paul Lendvai,
Jahrgang 1929, Publizist, politischer Kommentator und Moderator, stammt aus Ungarn und floh 1956 nach Österreich. Lendvai war von 1982 bis 1987 Leiter der Osteuropa-Redaktion des ORF. Zuletzt erschien sein Buch "Mein verspieltes Land. Ungarn im Umbruch" (2010).