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Orbáns Ablenkungsreferendum

Von WZ-Korrespondentin Kathrin Lauer

Politik

Obwohl Ungarn kaum betroffen ist, will Premier Orbán, dass das Volk in einem Referendum gegen Flüchtlingsunterbringung stimmt


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Budapest/Törtel. Die Herren haben ihre Hälse in Krawatten gezwängt, gehen angespannt auf und ab. Manch jung gebliebene Dame trägt zur Feier des abendlichen Events im Kulturhaus von Törtel halsbrecherisch hohe Stöckelschuhe. Der hohe Gast lässt auf sich warten. Mit viertelstündiger Verspätung entsteigt er seinem Dienstwagen, elegant, aber natürlich ohne Krawatte, das weiße Hemd unter dem schwarzen Anzug mit offenem Kragen, locker wie ein italienischer Grandseigneur: Zoltán Balog, Minister für Humanressourcen, ist da.

Er wird gleich etwas über Terroranschläge, kriminelle muslimische Migranten und über die Rettung des christlichen Abendlandes erzählen - kurz: über die Bedeutung des Referendums, bei dem die Ungarn darüber abstimmen sollen, ob sie wollen, dass die EU ihnen vorschreiben darf, "nicht-ungarische Staatsbürger" aufzunehmen. Die Antwort soll nach dem Willen von Balogs Regierungspartei Fidesz und deren Ministerpräsident Viktor Orbán "Nein" lauten.

Damit dies gelingen möge, ist Balog nach Törtel gekommen, auf eher feindliches Terrain: Das kleine Dorf mit 4600 Einwohnern, 80 Kilometer östlich von Budapest, hat einen parteilosen Bürgermeister, der Slogan der Regierung für das Referendum "Lasst uns Ungarns Zukunft nicht riskieren, lasst und mit Nein stimmen" hängt hier nur in Form von kleinen Fähnchen an wenigen Laternenpfählen, jene Riesenplakate, die sonst Ungarn zupflastern, sind hier nicht zu sehen.

Nach Balogs Auftritt muss der Saaldiener mehr als zwei Drittel jener Propaganda-Broschüren wieder einsammeln, die man auf jeden Stuhl bereitgelegt hatte, denn nur etwa 50 Zuhörer waren da. Zu sehen ist auf den Hochglanz-Zetteln ein Bild mit Trümmern am Brüsseler Flughafen nach dem Terroranschlag, darauf montiert Porträts des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und des EU-Parlamentspräsideneten Martin Schulz, dazu eine Grafik mit der nach oben weisenden Kurve der Zahl der "Einwanderer".

Für diese Kampagne soll die Regierung nach Einschätzung ihrer Opponenten die sagenhafte Summe von mehr als 30 Millionen Euro ausgegeben haben, für monatelange Hetze in den Medien und auf Plakaten. Orbán soll zudem laut Presseberichten Fidesz-Abgeordneten gedroht haben, dass sie bei der nächsten Wahl 2018 nicht mehr kandidieren dürfen, wenn sie nicht für eine hohe Beteiligung beim Referendum sorgen. Etwas von diesem Druck ist auch in Törtel zu spüren, wo Minister Balog dem von hier stammenden Parlamentarier László Földi von der mit Fidesz verbündeten Partei KDNP zu Hilfe geeilt ist.

"Bei weniger als 100 Prozent Zustimmung enttäuscht"

Zwar finden mehr als 80 Prozent der Ungarn den Zaun zur Abwehr von Flüchtlingen gut. Dennoch gilt Orbáns Erfolg beim Referendum als höchst unsicher. Das Meinungsforschungsinstitut Median errechnete, dass 42 Prozent der acht Millionen Ungarn zu den Urnen gehen dürften. Wenn es so kommt, ist das Referendum ungültig, denn dafür wäre eine Mindestbeteiligung von 50 Prozent plus einem Wähler notwendig. Die Median-Befragung fand allerdings vor dem immer noch ungeklärten Bombenanschlag vom letzten Samstag in der Budapester Innenstadt statt, der wilde Spekulationen über einen wohl unwahrscheinlichen Zusammenhang mit dem Referendum ausgelöst hatte.

Orbán hat bereits seine Argumentation für den Fall eines Referendumsdebakels durchblicken lassen. "Im politischen Sinn hat die Beteiligung keine Bedeutung", sagte er überraschend drei Tage vorher einem Radiosender. Nur eine Woche davor hatte er noch erklärt, er werde "enttäuscht" sein, wenn die Beteiligung bei "weniger als 100 Prozent" liege. Wenn es, wie erwartet, ein etwa 90-prozentiges Votum gegen die Flüchtlinge wird, dürfte Orbán dies als Erfolg feiern, selbst wenn die Beteiligung unter der Gültigkeitsgrenze lag.

Mit Ausnahme der rechtsextremen Partei Jobbik haben sich alle Oppositionsparteien gegen das Referendum ausgesprochen und vor allem darauf hingewiesen, dass es gegenstandslos sei, weil die EU-Kommission sowieso nicht mehr auf Flüchtlingsquoten beharrt. Verwirrend dürften aber die Ratschläge zum Abstimmungsverhalten wirken: Die meisten Parteien waren für einen totalen Boykott. Menschenrechtsorganisationen und Oppositionsmedien schlugen dagegen vor, zur Abstimmung zu gehen, aber die Stimmzettel durch Ankreuzen beider Optionen ungültig zu machen - dies mit Rücksicht auf Wähler in kleinen Orten, die dem direkten Druck Fidesz-treuer Beamter schutzlos ausgeliefert sind.

Während sich die linken Parteien in der Flüchtlingsfrage einig sind, gilt das nicht für ihr gesellschaftliches Hinterland. Dort bröckelt die Front. Sándor Németh, Chef der starken neoprotestantischen Gemeinde Hit Gyülekezet und Betreiber des liberalen Senders ATV, kündigte an, für Orbáns Position zu stimmen. Die Protestbewegung der mit Orbán unzufriedenen Lehrer ist dabei, sich wegen des Streits um die Flüchtlingsfrage zu spalten. Eine wichtige Stimme des ungarischen Liberalismus, der Schriftsteller György Konrád, lobte Orbáns Grenzzaun und kritisierte Angela Merkels Flüchtlingspolitik. Ob das beim Referendum ins Gewicht fällt, ist offen. Jedenfalls zitierte Minister Balog in seiner Rede in Törtel auch Konrád. Mit Genuss.