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Orbáns Huxit-Gedankenspiele

Von Bálint Ablonczy

Gastkommentare

Ist ein ungarischer EU-Austritt wirklich undenkbar? Es hängt wohl in erster Linie vom Geld ab.


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Der ungarische Finanzminister Mihály Varga hat unlängst erklärt, er habe den EU-Beitritt seines Landes befürwortet - sollte aber Ungarn am Ende dieser Dekade zum EU-Nettozahler werden, dann müsse er die Lage neu bewerten. Eigentlich ist es jetzt irrelevant, wann Ungarn tatsächlich Nettozahler wird. Es ist auch nicht wichtig, dass die EU-Mitgliedschaft in den reichen westlichen und nördlichen Mitgliedstaaten nie in Frage gestellt wird, obwohl sie mehr bezahlen, als sie aus Brüssel erhalten. Die Vorteile durch Freizügigkeit, Studieren, Wohnen und Arbeiten in anderen Mitgliedstaaten wiegen nämlich weit schwerer als eventuelle Nachteile.

Es ist bemerkenswert, dass der Finanzminister, dem das ideologische Säbelrasseln ansonsten fremd ist, die Überprüfung von Ungarns Mitgliedschaft ins Gespräch gebracht hat, wohl wissend, dass ein Austritt seines Landes einer politischen und wirtschaftlichen Bankrotterklärung gleichkäme. Mit dem EU-Austritt würde man sich auch von einem bedeutenden Teil der Wirtschaft verabschieden. Die Ungarn, die in verschiedenen EU-Staaten studieren oder arbeiten, befänden sich sofort im Niemandsland. Man würde sich wundern, wie schnell die lahmen EU-Bürokraten handeln würden, wie schnell sie die Bindungen zu jenem Land, das 1 Prozent des BIP der EU erwirtschaftet, lösen würden - viel rascher, als es beim Brexit der Fall war.

Der rechtsgerichtete Politologe Fricz schrieb unlängst in "Magyar Nemzet", dem Sprachrohr der Regierung von Premier Viktor Orbán: "Ich weiß, das Thema ist ein Tabu, doch irgendeiner muss es brechen, und zum ersten Mal soll es nicht als Schreckgespenst erscheinen: Huxit - der freiwillige, souveräne Austritt Ungarns aus der EU." Der Politologe wies direkt auf das bereits vollzogene, freiwillige Ausscheiden der Fidesz aus der Europäischen Volksparteien (EVP) hin. Und das geschah ohne Gesichtsverlust der Orbán-Partei.

Über viele Jahre waren alle überzeugt, dass die Fidesz an einem Bruch mit der EVP kein Interesse hätte, schon wegen der dadurch zur Verfügung stehenden Ressourcen, der Beziehungen und des politischen Schutzes. Doch die Beziehung verschlechterte sich in einem Maße, dass den Bruch unvermeidbar machte. Mit dem Austritt aus der EVP im März 2020 stürzte die ungarische Regierungspartei ins Nichts. Denn der Fidesz folgte keine einzige Partei - Solidarität sieht anders aus.

Nicht wenige Staaten würden Ungarns Austritt befürworten

Nachdem die Fidezs also die EVP verlassen hat, sollte man vorsichtig sein und den Huxit nicht mehr grundsätzlich ausschließen. Dazu kommt, dass nicht wenige EU-Staaten ihrerseits einen Austritt Ungarns befürworten würden. Als im heurigen Juni im Europarat das ungarische Gesetz, das die Grenzen zwischen Pädophilie und Homosexualität bewusst verwischt, zum Thema wurde, fragte etwa der niederländische Premier Mark Rutte Orbán direkt: "Warum tritt Ungarn nicht aus der EU aus?" Rutte, der dabei zuallererst sein eigenes Publikum im Blick hatte, sprach dabei laut aus, was in vielen EU-Hauptstädten gedacht wird.

Bálint Ablonczy ist ungarischer Journalist und Historiker. Er arbeitet als Redakteur bei valaszonline.hu.
© privat

In Bezug auf das ungarische oder polnische Veto wollte er wissen, ob gemeinsame Hilfsfonds durch ein zwischenstaatliches Abkommen direkt - also ohne die Zustimmung aus Warschau und Budapest - in die Wege geleitet werden können. Es ist kein Zufall, dass gerade der Ministerpräsident eines Nettozahlers so kämpferisch auftritt. Rutte schlägt nämlich Kapital daraus, dass die von tüchtigen Niederländern erwirtschafteten Euros "faulen Südländern" oder Osteuropäern zu Gute kämen, die den "Rechtsstaat mit Füßen treten".

Bemerkenswert ist, dass die EU-Mitgliedschaft sowohl von der ungarischen Regierung als auch von ihren größten Kritikern in erster Linie aus finanzieller Sicht thematisiert wird. Wie aber sehen die Finanzen aus? Ursprünglich wollte Ungarn vom erwähnten Hilfsfonds in Höhe von 750 Millionen Euro seinen ganzen Anteil (Kreditsumme plus Summe des nicht rückzahlbaren Zuschusses) abrufen. Das Unheil hat sich schon angekündigt, als sich herausstellte, dass Ungarn nur den nicht rückzahlbaren Teil des Hilfspakets (etwa ein Drittel des gesamten Kredits) beanspruchte. Über die Verwendung dieser Summe muss man nämlich keine Rechenschaft ablegen.

Mit der Zeit wurde aber die Rechenschaftspflicht über die Verwendung auch auf diesen Teil erweitert. Den dafür eingereichten ungarischen Antrag hat die EU-Kommission noch nicht akzeptiert. Sie hat vor der Überweisung von der ungarischen Regierung die Zusage eingefordert, Maßnahmen gegen die Korruption einzuleiten und die Unabhängigkeit der Justiz zu gewährleisten. Die Reaktion aus Ungarn: Während die EU-Kommission über Maßnahmen gegen die Korruption rede, würden die Vertreter der Open Society Foundations von George Soros - Orbáns erklärtem Feindbild - den Sargdeckel über Ungarn zunageln.

Kein Geld aus Brüssel - keine Zustimmung zur EU?

Das am häufigsten vorgebrachte Argument gegen den Huxit lautet, dass die überwiegende Mehrheit der Ungarn die EU-Mitgliedschaft befürworte. Nun, laut mehreren Umfragen sind tatsächlich 85 Prozent dafür, und selbst unter den Fidesz-Anhängern sind es 77 Prozent. Wirft man aber einen Blick hinter diese Zahlen, so stellt sich heraus, dass die Zustimmung in erster Linie auf finanziellem Interesse beruht. Es ist das Ziel von Orbáns, die Unterstützung der EU-Mitgliedschaft auf 50 Prozent zu drücken. Dann könnte er das Land aus der EU führen.

Natürlich weiß niemand außer dem ungarischen Premier, was er wirklich denkt. Doch Fakt ist, dass man, um die Beliebtheit der EU in Ungarn zu reduzieren, sich in der Tat bei den Finanzen umsehen müsste. Analysten von Policy Solutions Budapest haben vor zwei Jahren, anlässlich des 15. Jahrestags des ungarischen EU-Beitritts, untersucht, was hinter der beeindruckend hohen Zahl an Sympathisanten für die EU-Mitgliedschaft steckt. Und die Ergebnisse zeigen eindeutig, dass die Ungarn die EU-Flagge vor allem mit dem vielen Geld in Verbindung bringen.

Auf die Frage nach den drei größten Vorteilen einer EU-Mitgliedschaft haben nämlich 51 Prozent die für die ungarische Wirtschaft nützlichen Zuschüsse erwähnt. Die "Zugehörigkeit zur EU als Gemeinschaft" und "Europa ohne Grenzen" wurden zwar auch genannt; doch ist eine europäische Integration aus der Sicht der Ungarn nur dann zu befürworten, wenn die Mitgliedschaft auch wirtschaftliche Vorteile bringt.

Die große Frage lautet nun also: Bleibt der Zuspruch der Bevölkerung zur EU-Mitgliedschaft auf dem gegenwärtigen Niveau, auch wenn Ungarn weniger Geld bekommt, was durch die regierungsnahen Medien entsprechend dargestellt wird? Es geht nämlich nicht darum, die Zustimmung zur EU auf null herunterzubringen, es würde schon eine 50:50-Situation genügen. Eine gute Basis dafür sind jene Wähler, die in der EU bloß eine Geldquelle sehen - und die aktuell in Ungarn in der Mehrheit sein dürften. Wenn also der Bevölkerung immer wieder eingetrichtert wird, es gebe kein Geld mehr aus Brüssel, wird die Sympathie für die EU wahrscheinlich abnehmen. Und dann? Knallen wir dann mit ungarischem Temperament die Türe zu, an der wir früher um Einlass gebeten haben? In den nächsten Monaten wird wohl in der ungarischen Politik keine Frage wichtiger sein als diese.