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Ungarn hat gewählt, und Europa steht vor exakt genauso vielen ungeklärten Fragen wie vor diesem zur Schicksalswahl hochgejazzten Urnengang.
Das Wahlrecht und der für die Opposition eingeschränkte Zugang zu Medien haben das Ergebnis zweifellos zugunsten der Regierungspartei Fidesz verzerrt; aber insgesamt kann angesichts von einem Stimmenanteil von fast 49 Prozent und einer Rekordwahlbeteiligung der Bürger kein Zweifel am politischen Mandat Viktor Orbáns bestehen. Das zeigt sich auch darin, dass die meisten europäischen Spitzenpolitiker Orbán zu seinem Sieg - manche zähneknirschend, aber doch - gratuliert haben.
Politisch-kulturell hat sich damit der Graben zwischen West und Ost in Europa weiter verfestigt. Es ist ein Leichtes, auf beiden Seiten mit dieser Spaltung in Fragen wie Migration, Minderheitenschutz und der Rolle des Nationalstaats Politik zu machen. Sehr viel schwieriger ist es, einen endgültigen Bruch abzuwenden. Am Ende stünden dann nämlich alle als Verlierer da - und die Union vor den Scherben ihrer Existenz.
Aber wie sollen die europäischen Institutionen mit dieser Zurückweisung ihres politischen Modells umgehen, einer Zurückweisung wohlgemerkt, die sich auf ein demokratisches Mandat stützt? Das ist eine grundsätzliche Frage, die das Verhältnis von Demokratie und liberalem Rechtsstaat im Kern berührt. Ernst Wolfgang Böckenförde, deutscher Rechtsphilosoph und späterer Richter am Bundesverfassungsgerichtshof (glücklich die Staaten, die solche Köpfe für öffentliche Ämter gewinnen können), hat dieses Dilemma bereits vor vier Jahrzehnten prägnant auf den Punkt gebracht: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist."
Das Wagnis, das Böckenförde meint, ist das Prinzip, das die Bürger zum Souverän der Politik erhebt. Und dafür, dass dieses Wagnis nicht Schiffbruch erleidet, können nur die persönliche Moral der Einzelnen und der Zusammenhalt der Gesellschaft sorgen. Tief gespaltene Gemeinwesen scheitern an dieser elementaren Herausforderung, das gilt für Kommunen, Staaten und Staatenbünde, wie die EU einer ist, jedenfalls dann, wenn sie demokratisch sein wollen.
Noch ist der Konflikt zwischen West und Ost in der EU vor allem ein inhaltlich-strategischer über die Idee und die Ausrichtung der EU. Darüber kann, ja muss politisch mit demokratischen Mitteln gestritten werden. Der Konflikt ist aber bereits dabei, ein Grundprinzip der EU zu unterwandern, nämlich die Rechtsstaatlichkeit. Ab diesem Punkt ist das Wagnis der Freiheit unwiederbringlich gescheitert.