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Orca-Omas sind die Besten

Von Roland Knauer

Wissen

Orcas, Elefanten und Menschen haben eine interessante Gemeinsamkeit.


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Berlin. Muttersöhnchen sehen eigentlich anders als ein Orca-Männchen aus, das bis zu neun Meter lang und mehr als sechs Tonnen schwer werden kann. Und doch profitiert der schwarz und weiß gezeichnete Schwertwal erheblich von seiner Mutter, in deren Gruppe er ein Leben lang bleibt: Im Jahr nach dem Tod eines Orca-Weibchens steigt für deren Söhne jedenfalls das Risiko enorm, selbst in die ewigen Jagdgründe dieser größten aller Delfine einzugehen, berichten Darren Croft von der University of Exeter in England und seine Kollegen in der Fachzeitschrift "Science" (Band 337, Seite 1313).

Alternde Orcamütter schwimmen als Clan-Chefinnen voran; wenn sie sterben, steigt das Sterberisiko ihrer Söhne deutlich an.
© David Ellifrit, Centre for Whale Research, Friday Harbor, USA

Damit aber klären sie ein großes Rätsel der Biologie: Wieso leben Orca-Weibchen noch so lange nach Geburt und Heranwachsen ihrer jüngsten Nachkommen? Ein solches langes Leben nach der Menopause kennen bei den Säugetieren sonst allenfalls noch Menschen und Elefanten.

Alle drei Arten - Mensch, Elefant und Schwertwal - gelten unter den Säugetieren als Methusalems, die steinalt werden. Orca-Weibchen bekommen zum Beispiel ihr letztes Kalb oft erst nach ihrem 40. Geburtstag, werden aber selbst durchaus auch 90 Jahre alt. Längst haben die eigenen Kinder Kälber, ein älteres Orca-Weibchen ist also längst Oma und sieht seine Enkel oft schon als ausgewachsene Schwertwale. Zumindest, wenn es sich um den Nachwuchs ihrer Töchter handelt. Denn die eigenen Kinder bleiben bei Orcas meist ein Leben lang in der Gruppe ihrer Mutter. Die erwachsenen Söhne zeugen Nachkommen bei kurzen Ausflügen zu anderen Schwertwalgruppen, in denen diese Enkel dann aufwachsen. Die Töchter paaren sich mit Bullen aus fremden Gruppen, ziehen ihren Nachwuchs dann aber in der eigenen Familie auf.

Evolutionsbiologen aber fragen sich, welche Rolle die Oma in dieser Mehrgenerationen-Gruppe spielt. Eigentlich sollten die erwachsenen Orca-Weibchen ihre Kinder auch ohne Hilfe der Großmutter erziehen können. Erwachsene Schwertwale haben schließlich praktisch keine Feinde in der Natur und greifen im Gegenteil bisweilen selbst die gefährlichen großen Haie an.

Versicherungsmathematik

Des Rätsels Lösung fanden die Forscher, als sie die Daten genauer untersuchten, die John Ford von der Pacific Biological Station in Nanaimo an der kanadischen Pazifik-Küste seit 1974 erhebt. Regelmäßig fotografieren der Forscher und seine Mitarbeiter dort Orcas. Bis zum Jahr 2010 konnten sie 589 Tiere durch deren individuelle Färbung und die Form ihrer Rückenflossen identifizieren. Weil die Gruppen zusammenbleiben, konnten die Forscher so nicht nur die Geburten, sondern auch die verschwunden Tiere zählen, die wahrscheinlich tot waren. Mit 297 Schwertwalen starb in dieser Zeit etwas mehr als die Hälfte der beobachteten Tiere.

Mit einem normalerweise von Lebensversicherungen verwendeten mathematischen Modell rechneten die englischen Forscher nun die Überlebenswahrscheinlichkeit jedes Tieres in einem bestimmten Alter aus - und fanden Erstaunliches heraus: Im ersten Jahr nach dem Tod der Mutter ist  die Todesrate von Söhnen, die jünger als 30 Jahre sind, 3,1 Mal höher als bei Orcabullen mit noch lebenden Müttern. Bei älteren Söhnen steigt die Sterberate sogar um das 8,3-Fache. Bei jüngeren Töchtern ändert sich das Risiko nach dem Tod dagegen gar nicht, über 30-jährige haben ein 2,7 Mal höheres Sterberisiko. Je älter die Mutter wird, umso länger leben also die Söhne und haben in dieser Zeit mehr Chancen, eigenen Nachwuchs zu zeugen. Auf diese Weise kann die alternde Clan-Chefin ihre Erbeigenschaften an ihre Enkel weitergeben, ohne dass sie oder ihre Kinder sich um die jungen Schwertwale kümmern müssen, weil diese ja in einer anderen Gruppe aufwachsen.

Wie eine Menschen-Oma

Untermauert wird diese Theorie durch zwei weitere Ergebnisse der Lebensversicherungskalkulation: Stirbt ein Orca-Weibchen, das schon lange über das gebärfähige Alter hinaus war, steigt das Sterberisiko ihrer über 30-jährigen Söhne um das 13,9-Fache und damit besonders stark. Dagegen steigt das Sterberisiko der Töchter durch den Tod ihrer Mutter gar nicht oder erheblich geringer als bei den Brüdern. Da die Nachkommen der Töchter in der Gruppe bleiben, kümmert sich die Clan-Chefin auch um sie, ähnlich, wie jede Menschen-Oma sich um ihre Enkel sorgt. Aber nach der Evolutionstheorie zahlt es sich mehr aus, wenn sie ihre Söhne bei der Jagd und im Konkurrenzkampf mit Männchen aus anderen Gruppen unterstützt. Denn um die Enkel aus solchen Beziehungen kümmert sich ja die Oma in der anderen Schwertwal-Gruppe, in der die Mütter der kleinen Orcas leben. Die Oma bleibt jedenfalls die Beste, auch wenn es aus Sicht des Schwertwal-Bullen die Schwieger-Oma ist.