"Die Zukunft des Menschen hängt davon ab, ob er wieder lernt zu schweigen, nicht aus dem Gedränge der Vorteile und Parolen, sondern aus dem Wesen der Dinge heraus zu entscheiden." | Wo hätten die Worte Romano Guardinis mehr Gültigkeit als in der lärmenden Metropole Berlin! Je lauter das Getriebe, desto eher braucht der Mensch Räume der Stille, in denen er atmen und zu sich kommen kann. Einen solchen Ort findet er hier in einer Kirche, obwohl Religiosität nicht die erste Assoziation ist, die man mit Berlin verknüpfte.
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In der deutschen Hauptstadt bezeichnen sich nur noch 35 Prozent als Christen, darunter ein Viertel als Katholiken. Gleichwohl gibt es in der Spreestadt mehr als fünfhundert Kirchen, von denen einige sogar zu Wahrzeichen wurden, wie die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche.
Eine der faszinierendsten unter ihnen ist die katholische Gedenkkirche Maria Regina Martyrum, in den Jahren 1960 bis 1963 vom Würzburger Dombaumeister Hans Schädel sowie den Architekten Friedrich Ebert und Hermann Jünemann geschaffen. Wenn sakrale Architektur die Aufgabe hat, dem unfassbaren Inhalt erlebbare Form zu geben und die Seele in Bann zu schlagen, dann haben die Schöpfer dieser bemerkenswerten Kirche ihr Ziel erreicht.
Der Ort ist symbolträchtig; abseits des frequentierten Flughafen-Zubringers nach Tegel; ein paar Gehminuten von der Hinrichtungsstätte Plötzensee entfernt, in der die Nazis etwa zweieinhalb Tausend Jugendliche, Frauen und Männer enthauptet oder stranguliert haben.
Die spröde, fast brutale Architektur erinnert an ein Konzentrationslager: Übermannshohe, von schwarz-grauen Basaltkieselplatten bedeckte Betonmauern umschließen den beklemmend leeren, kopfsteingepflasterten "Appellplatz", über dem ein 25 Meter hoher Glockenturm wacht wie der Schießstand eines Vernichtungslagers.
Diese beklemmende Umgrenzung versetzt uns in eine Atmosphäre von Bedrohtheit, Gefangenschaft, Tod. Am unteren Ende des Platzes, quer zur Hauptachse scheint ein wuchtiger, alles erdrückender Betonblock in mehreren Metern Höhe über der Erde zu schweben. Der mächtige langgestreckte Baukörper der Oberkirche wendet dem Betrachter unnahbar eine durchgehend geschlossene Wand zu, die mit weißen Marmorkieselplatten verkleidet ist und damit einen klaren Kontrast zur Düsterkeit der unteren Region bildet. Der riesige Block ruht auf nur drei quergestellten Betonwänden, von denen zwei die Außenmauern der Unterkirche bilden. Das erweckt den Eindruck eines schwebenden Schreins - ein Symbol des auf die Erde herabkommenden Himmlischen Jerusalems.
Über dem Zugang zur Kirche glänzt eine vergoldete Bronzeplastik im Sonnenlicht, die einzige Farbe in dem grauen Gesamtbild. Die von Fritz König gestaltete Figur stellt das "apokalyptische Weib", Sinnbild der Kirche und Mariens, dar. Über eine hochaufsteigende Treppe gelangt man in den oberen, fensterlosen Kirchenkubus, der nur indirekt vom Tageslicht erhellt wird.
Die vordere Wand dieser riesigen Gefängniszelle wird von dem monumentalen Al targemälde des Solinger Malers Georg Meistermann ein genommen. Es zeigt in wuchtigen abstrakten Farbfeldern und darin eingestreuten, hauchzarten gegenständlichen Figuren den Übergang von der Nacht der Todverfallenheit, des Bösen und der Verstrickung zum Tag der vollen Erlösung.
Maria Regina Martyrum, Gedenkkirche für die christlichen Blutzeugen der Naziherrschaft, ist ein gelungenes Beispiel für die Einheit von Kirchenbau und Bauplastik. Ihre Botschaft, erschütternd und erhebend zugleich: Selbst angesichts der schlimmsten Dunkelheit dürfen wir auf das Licht der Erlösung hoffen.
Als ich die Kirche verließ, habe ich zum ersten Mal die Bedeutung des Wortes "sühnen" begriffen, das mit "gutmachen, stillen, versöhnen" verwandt ist.