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"Osama -who cares?"

Von Carsten Stormer

Politik

Im Süden Afghanistans kämpfen amerikanische und afghanische Einheiten weiterhin gegen Taliban und Al Kaida-Milizen, nehmen Gefangene und versuchen, die Herzen der Bevölkerung für sich zu gewinnen. Oft vergeblich, da nicht genügend Soldaten im Land stationiert sind, um dauerhaft in den unwegsamen Bergregionen Präsenz zu zeigen.


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"Fire mission", schreit eine Stimme. Der Ruf verursacht eine angespannte Hektik im Lager. Amerikanische und afghanische Soldaten springen aus Zelten und provisorischen Behausungen, werfen sich in ihre Splitterschutzwesten und stülpen die Schutzhelme über. Grenadiere springen an ihre Geschütze. Amerikanische Späher, die in den Bergen rund um das US-Camp versteckt liegen, haben Afghanen mit Funkgeräten entdeckt, die das Lager beobachten und Informationen über Truppenbewegungen weitergeben. Abhörspezialisten der amerikanischen Armee fangen Funksprüche ab und bestätigen, dass es sich um Taliban-Krieger handelt.

Die Position der fundamentalistischen Gotteskrieger ist schnell ermittelt, die Koordinaten werden umgehend an die Grenadiere an den Haubitzen weitergegeben. "Feuer!". Dreimal ertönt der Befehl. Dreimal schießen die Geschütze 105-Millimeter-Geschosse ab.

Das Donnern der Explosionen rollt über die Bergkämme, in der Ferne steigt weißer Rauch auf. Ein Sergeant zeigt mit dem Daumen nach oben, das Zeichen, dass die Geschosse ihre Ziele nicht verfehlt haben. "Zwei Funkgräte weniger für die Bastarde", ruft ein Soldat den Grenadieren zu. Das bedeutet auch zwei Taliban weniger. In Sergeant Jose Zambranos Gesicht spiegeln sich Stolz und Zweifel wieder. "Jetzt bin ich ein Killer", sagt der aus New York stammende Grenadier nachdenklich.

Zambrano gehört zur 2-5 Infanterie Division aus Hawaii. Drei Wochen lang operiert ein Battalion der Division zusammen mit Soldaten der Afghanistan National Army (ANA) in der kargen und bitterarmen Gebirgswelt der afghanischen Provinz Uruzgan, bevor sie sich wieder in ihren Stützpunkt in Tirin Kot zurückzieht. Das gemeinsame Ziel: Taliban und Al-Kaida Milizen töten oder festnehmen, um so die Sicherheit zu erhöhen und den Grundstein für den Wiederaufbau in der Region zu legen.

Gerüchte besagen, dass sich der einäugige Talibanführer Mullah Omar in diesem Gebiet befindet. "Osama, Omar? Who cares?", sagt der Kommandeur des Battalions, Colonel Terry Sellers. "Das sind mystische Figuren. In diesem Krieg geht es um die Leute, die mit ihnen die gleiche Ideologie teilen." Trotzdem ist ein Kopfgeld von 50 Millionen Dollar auf bin Laden ausgesetzt - tot oder lebendig. Sollte es US-Truppen gelingen, den Gesuchten zu töten, hätte die islamische Welt den größten Märtyrer ihrer Geschichte und Bush den größten Erfolg seiner politischen Karriere. "Catch 22" nennen die Amerikaner solche Situationen.

Ein Problem der US-Truppen ist, dass die 20.000 in Afghanistan stationierten Soldaten nicht ausreichen, um dauerhafte Stützpunkte in den Bergen zu errichten. "Wahrscheinlich kehren die Taliban zurück, sobald wir weg sind und alles wird wie vorher", sagt Colonel Sellers.

So sehen es auch die Einheimischen. Viele sind deswegen nicht bereit die ANA oder US-Armee zu unterstützen - aus Angst vor der Rache der Taliban. "Die Taliban haben uns verboten, den Soldaten zu helfen", sagt ein Dorfbewohner. "Wenn wir dies tun, be-strafen sie uns, sobald die Soldaten abgezogen sind."

"Deswegen müssen wir die Herzen der Bevölkerung gewinnen", sagt Colonel Sellers. "Die Stammesältesten wissen, wo die Taliban sich aufhalten. Wenn sie nicht wollen, dass sie ihnen weiter in den Arsch treten, sollten sie mit uns kooperieren."

Aus diesem Grund hilft die US-Armee beim Bau neuer Brunnen, Schulen und Straßen. Leistet medizinische Hilfe, wo sie nur kann. "Erst letzte Woche haben wir ein malariakrankes Mädchen ausgeflogen. Es wäre sonst gestorben", sagt Sergeant Ralph "Doc" Mendez stolz. Die medizinische Versorgungslage in der schwer zugänglichen Bergregion ist katastrophal. Tuberkulose und Malaria grassieren, fast jeder dritte Zeckenbiss endet tödlich.

Können uniformierte und bewaffnete Ärzte oder Ingenieure Vertrauen schaffen? Für die einfachen und ungebildeten Bergbauern ist es schwierig zu verstehen, dass an einem Tag Soldaten mit Bonbons und Medikamenten in den Dörfern auftauchen, Brunnen und Schulen bauen, und in der nächsten Nacht ihre Häuser stürmen und durchsuchen - auf der Suche nach Waffen und verdächtigen Personen. "Wir müssen die Sicherheit herstellen, damit sich UN und Hilfsorganisationen wieder hierher trauen", sagt Platoonführer Lieutenant Gonzales.

Die Tatsache, dass Taliban und Al-Kaida Kämpfer in den Bergen Uruzguns immer noch genügend loyale Unterstützer finden, stellt ein weitaus größeres Problem dar. Die konservative Auslegung des Islams in dieser Gegend bildet den idealen Nährboden für Fundamentalisten. Die Skepsis gegenüber Fremden und der Ehrenkodex der Paschtunen, der besagt, dass Gäste vor Feinden geschützt werden müssen, tun ihr Übriges. In den Bergen, mit ihren unzähligen Höhlen, Felsvorsprüngen und Fluchtwegen finden Taliban optimale Gegebenheiten, um sich vor ihren Häschern zu verstecken. "Es ist wie Voodoo", sagt Specialist Shawn Gibbs. "Sie lösen sich einfach in Luft auf."

Informationen über verdächtige Personen kommen nicht nur vom hochgerüsteten amerikanischen Militär-, Spionage- und Abhörapperat, sondern auch aus der afghanischen Bevölkerung. Nicht immer führen die Hinweise zum gewünschten Erfolg. Schon öfter ist es vorgekommen, dass ein Streit mit dem Nachbarn zur Denunzierung bei den US-Truppen führte, oder dass sich ein mutmaßlicher Taliban als CIA-Informant herausstellte. Peinliche Schlappen im Kampf gegen den Terrorismus.

Freitag, elf Uhr abends. Mehrere Humvees und Lastwagen sind im hellen Mondlicht deutlich zu erkennen. Nur langsam kommen die Fahrzeuge auf dem schwierigen Terrain vorwärts, bleiben immer wieder in ausgetrockneten Flussbetten stecken. Nach sechs Stunden erreicht der Konvoi sein Ziel. Die Soldaten sind mit einer dicken Staubschicht überzogen. In einiger Entfernung sind die Umrisse von Gebäuden zu erkennen. Hier sollen sich verdächtige Personen versteckt halten. Lieutenant Gonzales erteilt Befehle. Die Soldaten pirschen sich an die Behausungen heran. Stürmen sie. Männer flüchten. Warnschüsse werden abgefeuert. Schnellsind die Flüchtenden überwältigt. Drei Verdächtige werden festgenommen. Die Hände auf den Rücken gefesselt werden sie auf einen Lastwagen verfrachtet.

Persons under Control (PUC) werden die Gefangenen genannt. Gespräche zwischen den Häftlingen sind verboten. Ein Jutesack wird den PUCs über den Kopf gestülpt. Das "bagging" soll Fluchtversuche verhindern und dient der Einschüchterung, um sie bei der späteren Befragung leichter zum Reden zu bringen. Weitere Häuser werden durchsucht. Dorf für Dorf, bis in den späten Nachmittag. Verdächtige Dokumente und Armeebestände werden von den Soldaten gefunden. Es gibt weitere Festnahmen.

Währenddessen spielen sich vor dem Konvoi herzzerreißende Szenen ab. Mütter, Ehefrauen, Schwestern und Töchter der PUC's werfen sich in den Staub. Weinend. Flehen, dass man ihnen ihre Männer zurückgibt. Sie wissen nicht, was mit ihren Angehörigen geschehen wird, ob sie sie jemals wieder sehen werden. Dolmetscher versuchen die Frauen zu beruhigen - vergeblich. Am nächsten Tag werden einige der Gefangenen wieder freigelassen - mit einigen hundert Dollar als Entschädigung in der Tasche. Der Rest wurde nach der Befragung auf einen US-Stützpunkt ausgeflogen. Nächstes Etappenziel: Guantanamo, Kuba. Die Anwesenheit von Journalisten war bei der medizinischen Untersuchung und anschließenden Befragung nicht gestattet. Der Schock von Abu Ghraib sitzt der US-Armee noch in den Gliedern.

Das Misstrauen gegenüber den Einheimischen ist bei den US-Soldaten groß. Wer ist Freund, wer Feind? Ein Großteil der Soldaten ist davon überzeugt, einen gerechten Krieg zu führen; sie sind stolz auf ihre Arbeit - auch wenn sie dafür töten müssen oder getötet werden. "Die Menschen in Afghanistan haben genug gelitten. Wir sind hier um die Not zu lindern.", sagt einer der Soldaten. Ein anderer sagt voll Zorn: "Ich bin hier um Taliban in die Luft zu jagen. Die Schweine haben mein Land angegriffen." 9/11 ist noch immer allgegenwärtig, hat viele dazu bewegt in die Armee einzutreten.

Samstag, vier Uhr morgens. In einer Moschee soll eine Versammlung der Taliban stattfinden. Wieder macht sich ein Konvoi auf den Weg in die Berge. Ein Hubschrauber setzt ein Platoon in einem Tal ab. Die Soldaten geraten sofort unter Beschuss, werden von Taliban eingekreist. Auch der Feind ist bestens ausgerüstet, besitzt Satellitentelefone und Nachtsichtgeräte. Ein weiterer Platoon eilt den Soldaten zu Hilfe - über steile Berghänge. Männer mit langen Bärten befinden sich unter den Soldaten. Special Forces - Fotografieren strengstens verboten. Auch sie werden angegriffen. Apache Kampfhubschrauber fliegen Luftangriffe auf feindliche Stellungen. Stundenlang sind Maschinengewehrfeuer und Raketenexplosionen zu hören, dann haben sich die Fundamentalisten wieder im in Luft aufgelöst. Ein Soldat ist verwundet, mehrere Taliban wurden getötet.

Das Treffen in der Moschee fand heute nicht statt. Musste es auch nicht. Die Taliban haben Zeit. Es war die letzte große Operation der 2-5 Infanterie in dieser Region. Am nächsten Tag zieht sie sich aus der Region zurück.

Der Autor ist freier Journalist und war als "embedded journalist" mit den US-Truppen in Afghanistan unterwegs.