"Für mich ist heute ein Feiertag", rief Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in der Ostseehalle im schleswig-holsteinischen Kiel aus, wo heuer die Feiern zum 16. Tag der deutschen Einheit stattfinden, weil das nördlichste Bundesland derzeit den Vorsitz im Bundesrat führt. Es sei ein Wunder, dass "jemand wie ich, Frau aus der ehemaligen DDR, dem wiedervereinten Deutschland als Bundeskanzlerin dienen darf".
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Ist in anderthalb Jahrzehnten tatsächlich "zusammengewachsen was zusammengehört", wie Willy Brandt prophezeite?
Nun, die Ost-Deutschen leiden nicht mehr so häufig an Bluthochdruck wie früher, dafür werden sie stärker von Allergien befallen. Damit gleichen sie sich dem Westen an - auch in Sachen Lebenserwartung, die in der DDR rund drei Jahre kürzer war als in der BRD. Bei Gesundheit und Krankheit ist also die Einheit bald erreicht.
Auch in Berlin, das sowohl aus ehemals West als auch Ost besteht, haben sich die Lebensverhältnisse angeglichen. Unter den "besten" fünf Bezirken im Sozial-Atlas befinden sich immerhin zwei Ostbezirke; unter den fünf letzten nur Westbezirke. Die "schlechten" Gegenden - hohe Arbeitslosenzahl, Sozialhilfeempfänger, Kleinstverdiener - liegen also nicht im Osten.
Dennoch ist die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland (19 Prozent) fast doppelt so hoch wie im Westen. Das Wirtschaftswachstum hinkt hinterher, was den Abstand vergrößert; im Standort-Ranking belegen die Neuen Länder die letzten Plätze.
Die demografische Situation ist katastrophal: Der Osten vergreist. Seit 1990 ist die Geburtenrate in den neuen Bundesländern auf etwa die Hälfte geschrumpft. Im gleichen Zeitraum haben sie rund zwei Millionen Einwohner verloren, weil die Jungen und gut Ausgebildeten wegzogen.
Brutto wurden etwa 1,3 Billionen Euro (!) in den Ostteil Deutschlands geschaufelt. Ergebnis: Die technische Infrastruktur - Autobahnen, Schienen, Stadt- und Umweltsanierung, Telefonnetz - wurde großzügig ausgebaut. Was aber fehlt, ist ein breiter Mittelstand, sind die vielen kleinen Unternehmen und Sublieferanten. Kein Wunder: Die verbliebenen Rentner heben die regionale Kaufkraft nicht.
Zwar gibt es seit kurzem sowohl am Arbeitsmarkt als auch bei der Konjunktur Signale für eine Besserung; vom Gleichziehen in den Lebens- oder privaten Vermögensverhältnisses ist aber noch keine Rede. Einige Experten rechnen mit mindestens drei Jahrzehnten, falls es gelingt, Investoren anzusiedeln, den osteuropäischen Markt zu erschließen und junge Leute zurückzugewinnen.
Tiefer noch als die materiellen Unterschiede liegen die mentalen. Die Bindung an eine Religionsgemeinschaft ist im Osten drastisch niedriger; neben Estland gehört Ostdeutschland zu den konfessionell am stärksten säkularisierten Gebieten in Europa. Während jeder zweite Westdeutsche mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden ist, sind es in Ostdeutschland nur 27 Prozent. Das Ergebnis konnte man bei der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern ablesen: geringe Beteiligung, die großen Volksparteien sind keine mehr, der rechte Rand wuchert. Das Zusammenwachsen wird wohl noch etwas dauern.