Mit den Folgen der Wende beschäftigt sich der Westen intensiv, seit die AfD im Osten zur Volkspartei aufgestiegen ist. Nach dem Triumph von Rechtsaußen Höcke droht das Interesse dem Verdruss zu weichen.
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Dreieinhalb Meter schraubt sich das Wende-Denkmal in die Höhe. Auf einer Seite ist die Bronzeskulptur eingerissen. Symbolische Gitterstäbe füllen diesen Raum. Sie bilden die Repression in der DDR ab. Die Angst, dass es deren Bürgern 1989 genauso ergehen würde wie den Ungarn 1956 und den Tschechoslowaken 1968 und der Freiheitskampf letztlich erfolglos bleibt.
Es sollte anders kommen, das war spätestens vor genau 30 Jahren klar. Den 9. November, den Tag, an dem die Mauer fiel, kennt jeder. Das mit der Bronzeskulptur verbundene Datum praktisch niemand. Dabei bedeutete der 7. Oktober 1989 eine Zäsur. Erstmals kapitulierte die DDR-Staatsmacht vor den Protestierenden. Nicht wie zuvor löste sie Kundgebungen gewaltsam auf, die Demonstration wurde damals friedlich beendet. Auch der Schauplatz des Geschehens ist in Vergessenheit geraten. Nicht in Berlin, auch nicht in Leipzig trotzte die Bevölkerung dem Regime, sondern in Plauen.
Die sächsische Kleinstadt liegt im westlichen Zipfel des Freistaates, nach Bayern und Tschechien ist es ein Katzensprung. Bereits im 15. Jahrhundert war Plauen ein Zentrum der Tuchmacher und Baumwollweber. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg erlebte die Plauener Spitze ihren Höhepunkt, eine fünfstellige Zahl an Stickmaschinen war im Einsatz. Die der Einwohner stieg 1912 auf knapp 130.000. Heute ist es die Hälfte.
Die Jungen nicht verlieren
Der Abstieg ist nicht gleich sichtbar. Der Ortskern ist revitalisiert, die jahrhundertealten Weberhäuser wurden wieder instand gesetzt. Es gibt auch kein Heer an Arbeitslosen; in Plauen sind es 5,6 Prozent, in der Umgebung, dem Vogtlandkreis, sogar noch weniger. Die Perspektive vor Ort fehlt aber. Zur Arbeit wird oft ins sächsische Zwickau oder nach Hof in Bayern gependelt - wo auch Tausende studieren. In Plauen gibt es gerade einmal eine Berufsakademie für 400 Personen. Die Stadt droht die Jungen zu verlieren.
Wo Zukunftssorgen herrschen, blüht die AfD auf. In Plauen erhielt ihr Kandidat Frank Schaufel bei der Landtagswahl im September die meisten Direktstimmen und zog ins sächsische Parlament ein. Überhaupt wurde die Wahl in Sachsen zum Triumph, 27,5 Prozent bedeuteten das beste Ergebnis in der jungen Parteigeschichte. Nur sechs Jahre nach ihrer Gründung ist die AfD Volkspartei im Osten. Mit Ausnahme des historischen Sonderfalls Berlin liegt sie nirgends unter 20 Prozent.
Bereits vor Beginn der Flüchtlingskrise war die AfD im Osten wesentlich stärker als im Westen, seit 2015 startet sie durch. Auf der Suche nach den Ursachen hat sich "der Westen" in bisher noch nie da gewesener Weise mit den nicht mehr "neuen Bundesländern" beschäftigt.
Zahlen, nicht Befindlichkeiten
Dass die Wiedervereinigung nicht nur "blühende Landschaften" bereithielt, die Helmut Kohl versprochen hatte, wurde zwar thematisiert. Oft ging es dabei um Zahlen, zu wenig um Befindlichkeiten. Die "Ossis" hatten Freiheit und Demokratie selbst errungen. Bekommen haben sie die rechtsstaatlichen Strukturen der alten Bundesrepublik, die zu übernehmen waren. Ihre Industrie wurde abgewickelt, die Bürger mussten in einem neuen politischen System zurechtkommen und sich eine neue wirtschaftliche Existenz aufbauen. Währenddessen machten windige Geschäftsleute aus dem Westen ihren Reibach, und der Neustart in Verwaltung sowie Behörden bot zweitklassigem West-Personal die Gunst der Stunde für eine Karriere im Osten.
All das wurde spät gesehen. Bücher wie "Integriert doch erst mal uns!" von Sachsens Integrationsministerin Petra Köpping stiegen zu Bestsellern auf. Verstanden wurde dann besser, was es bedeutet, wenn 30 Prozent der Ost-Bürger im Niedriglohnsektor arbeiten.
Keine Partei bedient das Gefühl der Vernachlässigung so gut wie der selbst ernannte Außenseiter AfD im Kampf gegen die "Systemparteien". In Brandenburg - auch dort fuhr sie zuletzt einen Triumph ein - meinen mehr als drei Viertel der AfD-Wähler, Ostdeutsche seien Bürger zweiter Klasse. Es ist eine parteiübergreifende Stimmung. Auch bei Linker, SPD und FDP stimmt die Mehrheit der Sympathisanten der Aussage zu.
Den Ärger über das Unverständnis aus dem Westen saugte einst die Linkspartei ab. Die AfD kombiniert den Protest mit einem unverhohlenen Rechtsaußendrall. In Thüringen erzielte die AfD im Oktober 23,5 Prozent. Angeführt wird sie dort von Björn Höcke, einem Mann, der per Gerichtsurteil aufgrund der "überprüfbaren Tatsachengrundlage" als "Faschist" bezeichnet werden darf. Höcke ist Aushängeschild des "Flügels", einer völkischen Gruppe innerhalb der AfD. Der "Flügel" wurde vom Verfassungsschutz zum "Verdachtsfall" erklärt und darf daher geheimdienstlich überwacht werden.
Bagatellisiert und pauschaliert
Es sind ausgerechnet aus Westen Zugezogene wie Höcke, die den Rechtsextremismus in Ostdeutschland befeuern - den es aber bereits in der DDR gab. Da diese per Definition ein antifaschistischer Staat war, gab es in der Theorie auch keine rechtsextremen Umtriebe und schon gar keine Nazis. Geschahen Übergriffe, wurden aus ihnen "Randalierer". Mit der Wende kam bei vielen die Orientierungs- und Perspektivlosigkeit. Die Rechtsradikalen nutzten Spielräume, die ihnen Mehrheitsgesellschaft und Politik gaben. Was nicht sein darf, ist nicht - auch nach 1989. "Die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus", erklärte Nach-Wende-Ministerpräsident Kurt Biedenkopf. Erst der 2017 amtierende Michael Kretschmer erklärte Rechtsextremismus zum "größten Problem" des Bundeslandes.
Auch im Westen finden sich rechte Strukturen. Aber es gibt keine Bagatellisierung, auch nicht medial. Die in Teilen neonazistische NPD verniedlichte der Mitteldeutsche Rundfunk anlässlich der Thüringen-Wahl mit den Worten: "Die NPD sieht sich politisch deutlich rechts der Mitte." Was zeigt, dass es noch viel mehr Wissen und Bewusstseinsbildung zu antidemokratischen Kräften benötigt.
Gläserne Decke durchbrechen
Auch im Westen fehlt es an Wissen. Nach Höckes Wahlerfolg schrillten dort die medialen Alarmglocken. Immer wieder schimmerte durch, die Ostdeutschen seien unbelehrbar. Derartige Pauschalierungen bereiten aber nur den Boden der AfD. Vielmehr sollten die großen und renommierten Medienhäuser - allesamt haben sie ihren Hauptsitz Westen - ihre Ost-Berichterstattung ausbauen.
Die gläserne Decke muss durchbrochen werden. Keine einzige Universität im gesamten Bundesgebiet wird von einer Person aus dem Osten geleitet. Nur vier der 195 Vorstände von im DAX notierten Großunternehmen stammen von dort. Und die Bundesregierung umfasst nur zwei Mitglieder aus dem Osten, Kanzlerin Angela Merkel und Familienministerin Franziska Giffey.
Für die Politik gilt auch, den abstiegsgefährdeten Kleinstädten und ländlichen Gegenden noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Mit dem Heimatministerium gibt es ein oft belächeltes, aber potenziell wirksames Instrument. Damit auch in Städten wie Plauen 30 Jahre nach dem Mauerfall zusammenwächst, was zusammengehört.