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Ostern im Vatikan: Eine Kapuzinerpredigt

Von Clemens M. Hutter

Gastkommentare

"Seid klug wie die Schlangen!" Diese Taktik empfahl Jesus (Mt. 10,16) seinen Jüngern bei der Missionierung der Welt. Leider verstieß der Vatikan zu Ostern gegen Jesu Rat. Während der Karfreitagsliturgie in Rom zitierte der persönliche Prediger des Papstes, Pater Raniero Cantalamessa, aus dem Brief eines jüdischen Freundes: In der Diskussion über pädophilen Missbrauch tauchen Stereotypen auf, die an "schändlichste Aspekte des Antisemitismus" erinnern, weshalb ihn die Attacken auf Kirche und Papst empören.


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Darf man dieser Kapuzinerpredigt jene "Arglosigkeit der Tauben" (Mt. 10,16) unterstellen, die Jesus seinen Jüngern darlegte? Warum zitierte der Pater einen anonymen Freund, statt selbst den Missbrauchsskandal mit "schändlichsten Aspekten des Antisemitismus" gleichzusetzen?

Vatikan-Sprecher Federico Lombardi reagierte prompt auf den Sturm der Empörung über diese Predigt: Sie entspreche nicht der Linie des Heiligen Stuhls. "Die Solidaritätsbekundung eines Juden im Licht der besonderen Leidenserfahrung seines Volkes" habe leider "Missverständnisse" ausgelöst. Daraufhin entschuldigte sich Cantalamessa dafür.

Von der "Klugheit der Schlangen" also keine Spur, sondern miserable Taktik. Denn das Missverständnis weicht in diesem Fall nicht dem Verständnis für einen kapitalen Patzer. Darf man denn annehmen, dass die Kapuzinerpredigt nicht das Placet des Vatikans hatte? Oder vergaß der Vatikan jenes Unheil, das der Papst mit dem Zitat eines oströmischen Kaisers gegen den Islam angerichtet hatte?

Doch am Ostersonntag kam es knüppeldick. Der "Osservatore Romano" prangerte die "plumpe Kampagne gegen den Papst und die Katholiken" wegen der Missbrauchsskandale an. Das Sprachrohr des Papstes wetterte gegen "verleumderische Angriffe" sowie eine "Diffamierungskampagne" und verwies zur Entlastung auf "zahlreiche Solidaritätsschreiben" von Bischöfen aus aller Welt. Sind also jene durchaus "zahlreichen" Bischöfe und Theologen "Diffamierer", die vom Papst mehr als tiefes Bedauern fordern?

Schließlich sorgte Kardinal Angelo Sodano vor dem Papstsegen "urbi et orbi" für einen Knalleffekt. Der zweite Mann nach dem Papst wich vom Zeremoniell ab und erklärte vor Zehntausenden auf dem Petersplatz: "Das Volk Gottes lässt sich nicht vom Geschwätz der Zeit beeindrucken." Mit dieser Umkehr von Ursache und Wirkung trifft auf Sodano Jesu Urteil über jene Heuchler zu, die den Splitter im Auge anderer sehen, nicht aber den Balken im eigenen Auge (Mt. 7,5). Der Papst verlor in der Osterbotschaft kein Wort zum Thema Missbrauch; vielmehr mahnte er zu Frieden in Nahost und spendete den "bedrängten Christen im Irak" Trost.

Und die psychisch immer noch bedrängten Opfer pädophiler Kleriker? "Die Kinder dieser Welt sind unter ihresgleichen klüger als die Kinder des Lichts". Dieser Satz Jesu (Lk. 16,8) mahnt die "Kinder des Lichts" zur Kardinaltugend Klugheit - auch den Vatikan.

Clemens M. Hutter war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".