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Österreich braucht mehr Offenheit

Von Hermann Sileitsch

Analysen
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Mai bringt nur noch "Mini-Öffnung" des Arbeitsmarktes. | Großer Teil der Migranten längst da. | Wirtschaft künftig noch stärker auf Zuwanderung angewiesen. | Brüssel/Wien. Wie viele Arbeitssuchende aus den acht EU-Beitrittsländern von 2004 tatsächlich nach Österreich kommen werden, kann niemand wissen.


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Am 1. Mai wird die siebenjährige Übergangsfrist auslaufen, die Österreich und Deutschland sich ausbedungen hatten. Damit steht der heimische Arbeitsmarkt Menschen aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Slowenien und den baltischen Staaten ohne Genehmigungen offen.

Boulevardmedien warnen bereits vor einem "Ansturm der Ostarbeiter" und schreiben Massenarbeitslosigkeit herbei.

Neue Mitarbeiter werden "händeringend gesucht"

Zur selben Zeit startet die Einkaufsgenossenschaft Hogast eine gezielte Werbeoffensive für Fachkräfte aus Osteuropa. Der Grund: "Die Tourismus-Branche sucht händeringend nach neuen Mitarbeitern." Rund 1200 offene Arbeitsplätze seien derzeit ausgeschrieben und unbesetzt. Wie passt das zusammen?

Gerade weil die Prognosen und Umfragen mit Unsicherheiten behaftet sind, bietet sich eine ideale Projektionsfläche für Ängste und Stimmungsmache.

"Ich weiß auch nicht, wie viele Polen kommen werden", räumte der aus Polen stammende Ökonom Kazimierz Laski, langjähriger Leiter des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW), bei einer Diskussion von Wiwipol und Renner-Institut ein. Vor der Arbeitsmarktöffnung 2004 hätten sich die Ökonomen gehörig verschätzt: Damals wurde mit 100.000 polnischen Migranten pro Jahr gerechnet. Geworden sind es dann 400.000, die vor allem nach Irland, Spanien, Großbritannien strömten.

Wer sagt, dass nicht in Österreich Ähnliches passiert? Es gibt stichhaltige Argumente, warum Ängste vor einer Massenzuwanderung unbegründet sind. Mehr noch: Österreich hätte aus ökonomischer Sicht stärker profitieren können, wenn es die Öffnung früher angestrebt hätte.

Kommen sie oder kommen sie nicht? Besonders gespannt wartet die Baubranche auf die Arbeitsmarktöffnung am 1. Mai. Foto: corbis

* Die Wirtschaftswelt hat sich seit 2004 massiv verändert: Damals stand in Ländern wie Irland und Spanien der Bauboom in voller Blüte. Diese Immobilienblase ist geplatzt, die Wirtschaftskrise hat die Karten neu gemischt. Dabei haben die Länder in Ost- und Mitteleuropa seit ihrem EU-Beitritt nicht nur massiv aufgeholt, was das Einkommensniveau und die Kaufkraft anbelangt. Sie haben heute großteils bessere Wachstumsaussichten als westeuropäische Länder.

* In Wahrheit handelt es sich am 1. Mai nur noch um eine "Mini-Öffnung": Österreich hat sich die Rosinen bereits herausgeklaubt und Schritt für Schritt immer mehr Arbeitsgenehmigungen vergeben - über Saisonnier-Regelungen oder über die Fachkräfteverordnung für "Mängelberufe".

Die Folge: 69.000 Beschäftigte aus den acht EU-Beitrittsländern sind schon in Österreich tätig - wie übrigens auch 80.000 Arbeitnehmer aus Deutschland.

"Wien war und bleibt Zuwanderungsstadt"

Die Wiener Wirtschaft begrüßt die Öffnung, macht sich aber keine Illusionen, dass dadurch der drängende Fachkräftemangel behoben werden kann. "Der tschechische Koch oder der polnische Techniker konnten schon bisher kommen. Man hat sie aber gar nicht gekriegt", sagt Günter Steinlechner von der Wirtschaftskammer Wien. Die Kontingente seien nicht voll ausgeschöpft worden.

Damit ist eine Tendenz angedeutet, die sich durch die Bevölkerungsentwicklung noch verstärken wird:

* Österreich ist auf Zuwanderung angewiesen. Laut OECD werden 2020 um 56 Prozent mehr Personen aus dem Arbeitsprozess ausscheiden, als neu eintreten. Die Gefahr ist, dass Österreich seine Attraktivität für Zuwanderer gehörig überschätzt: Laut Umfragen haben andere Staaten als Zieldestinationen die Nase vorn. Österreich droht im Kampf um die besten Köpfe und geschicktesten Hände zurückzufallen. Denn nicht die Staaten suchen sich topqualifizierte Arbeitskräfte aus, sondern diese wählen, welches Land für sie attraktiv ist. Dabei zählen weniger das generelle Lohnniveau oder die Kaufkraft, sondern das konkrete Angebot.

In der Bundeshauptstadt ist die Botschaft angekommen. "Wien ist eine Zuwanderungsstadt, das war immer so und wird auch so bleiben", sagte die Gemeinderätin und Landtagsabgeordnete Tanja Wehsely (SPÖ). Die Stadtpolitik setze deshalb bewusst Schwerpunkte wie eine grenzüberschreitende Ausbildung von Lehrlingen.

Bei Unterbezahlung drohen hohe Strafen

EU-Gegner verweisen oft auf das Vorbild Schweiz. Just in unserem Nachbarland haben aber 60 Prozent der Bevölkerung 2009 der Ausdehnung des freien Personenverkehrs mit der EU und (schrittweisen) Ausweitung auf Rumänien und Bulgarien zugestimmt - freiwillig, wie der frühere Außenminister Erwin Lanc betont. Dadurch ist es EU-Bürgern erlaubt, sich in der Schweiz niederzulassen und dort zu arbeiten.

* Glücklicherweise ist der Arbeitsmarkt trotz Krise stark genug, um die Migranten und Pendler aufzunehmen. Das Wirtschaftsforschungsinstitut rechnet mit einem Zugang von 26.000 Personen aus Tschechien, der Slowakei und Ungarn pro Jahr. Zum Vergleich: In den letzten Jahren waren es knapp 10.000.

Im Gegenzug wird für Österreich heuer ein Beschäftigungszuwachs von 52.000 Jobs erwartet. Somit sollten genügend Menschen einen Job finden, ohne dass die Arbeitslosigkeit dramatisch steigt. Österreich weist mit 4,8 Prozent ohnehin die drittniedrigste Arbeitslosenquote der EU (hinter den Niederlanden und Luxemburg) auf.

* Problematisch könnte sein, dass durch die Öffnung der Druck auf niedrig qualifizierte Arbeitnehmer steigt, bei denen schon jetzt die Sockelarbeitslosigkeit hoch ist. Dieses Problem muss Österreich aber selbst bekämpfen; vor allem durch effizientere Ausbildung.

Besondere Bedenken hat die Baubranche. Dort gab es schon bisher illegale Beschäftigung, Lohndumping und Scheinselbständigkeit: Probleme, die nicht der Arbeitsmarktöffnung zugeschrieben werden können.

Mit dem Gesetz gegen Lohn- und Sozialdumping gibt es erstmals eine starke Handhabe gegen Missbrauch. Wie effizient und flächendeckend die Finanzpolizei (früher KIAB) tatsächlich kontrollieren kann, ist fraglich. Die angedrohten Strafen sind jedenfalls deftig: Pro unterbezahltem Arbeitnehmer betragen sie 1000 bis 10.000 Euro - im Wiederholungsfall noch mehr. Strafen, die übrigens auch dem privaten Häuslbauer drohen, der "Nachbarschaftshilfe" allzu großzügig auslegt und dem netten Ungarn ein Zubrot auf der Baustelle verschafft.

* In der Debatte fällt oft unter den Tisch, dass Österreich einer der größten Investoren in Mittel- und Osteuropa ist. "Österreich und Deutschland sind die Länder, die am meisten durch die EU-Erweiterung gewonnen haben", sagt Kazimierz Laski. Wien wird für Konzerne als "Tor in den Osten" beworben. Tore sind aber in beide Richtungen offen.