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"Österreich ist ein interessantes Vorbild"

Von Thomas Seifert aus Alpbach

Politik

EU-Sozialkommissar László Andor über soziale Ungleichheit in Europa und die kommende Wirtschaftsentwicklung.


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"Wiener Zeitung":In den vergangenen Jahren wurde zwar auf EU-Ebene viel politisches Kapital darauf verwendet, um die Bankenkrise zu lösen, viele europäische Bürger aber beschleicht das Gefühl, dass viel weniger für die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Opfer der Krise getan wurde.

László Andor: Es fällt mir schwer, diese Meinung nicht zu teilen. Der Fokus war auf die Finanzmarktstabilisierung gerichtet und weniger auf die direkte Hilfe für jene, die in der Krise ihre Jobs verloren haben. Die Absicht hinter diesem Drängen auf die Stabilisierung des Bankensystems war: Die Banken müssen rasch wieder in die Lage versetzt werden, Kredite an die Realwirtschaft zu vergeben. Aber dieser Prozess hat sich als sehr langsam erwiesen. Man kann auch heute noch nicht sagen, dass der Bankensektor wieder dynamisch ist und wieder Kredite in ausreichendem Maß vergeben werden. Es braucht also Hilfe für jene, die ohne Arbeit, vielleicht auch ohne Dach über dem Kopf sind; etwa in Spanien, wo es viele Delogierungen gab. Wir haben aber sehr wohl Maßnahmen ergriffen, um die sozialen Probleme zu beheben. Österreich ist dabei ein interessantes Vorbild: Denken Sie an die Lehrplatzgarantie und den Beitrag dieser Initiative zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit. Dieses Modell haben wir EU-weit auf den Weg gebracht.

Das geht aber alles recht langsam.

Ja, leider. Aber nun arbeiten alle EU-Länder unter derselben Philosophie an den notwendigen Reformen, um die Kapazitäten ihrer Arbeitsmarktverwaltungen zu verbessern und dieses Programm umzusetzen. Unser Ziel: Diese Beschäftigungsgarantie in vier Monaten zu verwirklichen. In Ländern wie Spanien oder Italien, die eine schlechte Ausgangssituation und hohe Jugendarbeitslosigkeit haben, geht man nun mit Verve daran, das umzusetzen.

War diese Zeit nicht ein PR-Desaster für die EU-Kommission? Bei vielen Menschen sind die Aktivitäten zur Bankenrettung und zur Schaffung einer Bankenunion so angekommen: "Die in Brüssel tun was für die Banker, aber was tun sie für Menschen ohne Krawatte?"

Diese Optik bestand. Aber: Wir haben dafür gesorgt, dass im sogenannten europäischen Semester dafür Sorge getragen wird, dass in den europäischen Budgets die soziale Dimension ihren Niederschlag findet. Es gibt zwei unterschiedliche Philosophien in Europa: Die einen sagen, es braucht eine starke soziale Dimension in der EU, es braucht auf diesem Feld Gesetze, finanzielle Instrumente und Regelungen. Die zweite Position ist, dass man Politikfelder wie eben soziale Angelegenheiten auf die nationale Ebene zurückholen sollte. Ich persönlich glaube, dass nur ein soziales Europa vorwärtskommt, die Legitimität einer reinen Wirtschaftsunion würde wohl von Teilen der Bevölkerung infrage gestellt.

Seit einiger Zeit nimmt die Intensität der Debatte über soziale Ungleichheit zu. Ist das eine Mode-Erscheinung oder sehen Sie einen Gezeitenwechsel im ökonomischen Denken?

Da gibt es auf intellektueller Ebene tatsächlich einen Wandel. Den sollte es auch auf politischer Ebene geben. Wir haben uns auf EU-Ebene darauf geeinigt, dass wir Armutsreduktionsziele brauchen. 2011 organisierten wir eine groß angelegte Konferenz, die sich mit dem Thema der sozialen Ungleichheit beschäftigte. Aber das Thema hat damals nicht besonders hohe Wellen geschlagen. 2011 hat man wohl noch geglaubt, dass die sozialen Probleme verschwinden werden. Heute ist allen klar, dass massive und sehr schnell wachsende Ungleichheit eine weitere Destabilisierung der Wirtschaft zur Folge hätte.

Wachsende Ungleichheit behindert auch das Wachstum, heißt es von Seiten dieser Ökonomen.

Österreich hat eine vergleichsweise geringe soziale Ungleichheit. Länder wie Österreich haben eine faire Vermögensverteilung, sind aber gleichzeitig wettbewerbsfähig. Die OECD hat ihre Mitgliedsländer aufgefordert, die soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Wenn man das nicht tut, riskiert man ökonomisches Potenzial. Wenn für einen wachsenden Teil der Bevölkerung das tägliche Überleben das Denken beherrscht, dann ist deren potenzieller Beitrag zum Wohlstand der Nation eher gering. Aber Studien zeigen, dass das ärmste Zehntel oder sogar das ärmste Drittel in Europa unter viel besseren Bedingungen lebt als in den USA.

Die USA sind aber ökonomisch dynamischer als Europa.

Ein Grund: Sie können sich eines Zuzugs von gut ausgebildeten Migranten erfreuen. Was mir aber noch wichtig ist, zur Frage von vorhin hinzuzufügen: Wir haben vergangenes Jahr das Sozialinvestmentpaket verabschiedet, um sicherzustellen, dass die Mitgliedsländer in der Lage sind, frühzeitig in Sozialkapital zu investieren. Wenn man nämlich die sozialen Probleme zu dem frühen Zeitpunkt in Angriff nimmt, dann kann man sich später hohe Sozialausgaben ersparen.

Hatten Sie das Gefühl, dass Sie die Unterstützung Ihrer Kolleginnen und Kollegen in der EU-Kommission für Ihre Anliegen hatten?

Wir hatten immer wieder sehr schwierige Gespräche. Aber das Gefühl, das bei manchen Beobachtern vorherrscht, dass die Frontlinien entlang von parteipolitischen Grenzen verlaufen sind, wird von den Fakten nicht unterstützt. Auch, dass wir nur sieben sozialdemokratische Kommissare hatten, war nicht der Punkt. Denn beide Partei-Gruppen in Europa - Mitte-Rechts und Mitte-Links - bekennen sich zur Idee der Sozialen Marktwirtschaft.

Dennoch sind Anti-EU-Parteien im Aufwind.

Ich glaube, dass der Aufstieg der Anti-EU-Rechtspopulisten in den verschiedenen Ländern unterschiedliche Ursachen hat. In Großbritannien werden immer wieder künstliche Angriffslinien der EU-Kritik geschaffen. Da geht es schlicht darum, "Beweise" dafür zu erbringen, die nachweisen sollen, dass die EU eine schlechte Sache ist. In Wahrheit natürlich profitiert Großbritannien sehr stark von der EU. In Frankreich wiederum ist der Aufstieg der Front National nicht ein Produkt der Krise von 2008 bis heute, sondern die FN befindet sich bereits seit den 90er Jahren im Aufwind, als die Globalisierung die französische Wirtschaft und den französischen Arbeitsmarkt unter Druck zu setzen begann.

Sie stammen aus Ungarn. In der ungarischen Regierung hat sich auch eine immer größere Anti-EU-Stimmung durchgesetzt. Man hat fast das Gefühl, dass die ungarische Regierung heute mehr in Richtung Moskau als in Richtung Brüssel blickt.

Eine heikle Frage. Es gab in der EU-Kommission immer wieder Diskussionen über die Verfassungsentwicklung in Ungarn. Aber: Niemand wollte die Fehler, die im Umgang mit Österreich gemacht wurden - Stichwort: EU-Sanktionen gegen Schwarz-Blau - wiederholen. Damals gab es ja mehr Rauch als Feuer. Dieses Mal wollte niemand kontraproduktiv agieren. Und daher hat die EU-Kommission stets darauf beharrt, die Kompetenzen zu beachten und hat auch darauf geachtet, dass wir strikt auf der Basis der EU-Gesetze agieren, wenn wir ein Land bitten, EU-Standards, EU-Normen und europäische Werte einzuhalten. Dazu kommt noch: Die Position der ungarischen Regierung ist oft schwierig einzuschätzen, denn es wird viel geredet, am nächsten Tag gibt es eine Korrektur, eine Erklärung oder Ähnliches.

Welche Erwartungen haben Sie an die nächste Kommission?

Da geht es zuerst darum, welche Philosophie Kommissions-Präsident Jean-Claude Juncker verfolgen wird. Will er ein starkes Europa oder will eine Repatriierung von Kompetenzen auf die Ebene der Mitgliedsländer, wie einige Hauptstädte das ja fordern. Wenn er eine Repatriierungs-Philosophie akzeptiert, dann wird es in Europa eine Menge Probleme geben. Er wird aber in der neuen Kommission wohl in einer quasi großen Koalition arbeiten.

Wie sehen Sie die Zukunft? Sind Sie pessimistisch oder optimistisch?

Nicht vorsichtig pessimistisch, nicht vorsichtig optimistisch, sondern vor allem vorsichtig. Europa kommt langsam aus der Rezession. Wir sehen eine Stabilisierung im Finanzsektor und auch eine Konsolidierung der Realwirtschaft. Und nun fällt auch die Arbeitslosigkeit. Es deutet also vieles darauf hin, dass es in die richtige Richtung geht. Aber uns muss auch klar sein: Der Aufschwung ist fragil. Wenn es nicht gelingt, das europäische Finanzsystem zu reparieren, dann geht wieder Vertrauen verloren. Mein Gefühl ist: Vor vier Jahren waren wir in genau derselben Situation. Es gab einen Aufschwung und dann ist er uns zwischen den Fingern zerronnen. Wir müssen also sehr genau diskutieren, warum es damals nicht gelungen ist, das Momentum des Aufschwungs zu nutzen. Wir müssen uns fragen: Warum rutschte Europa damals in die Rezession zurück? Ich glaube, dass es ohne weitere Stärkung der Währungsunion nicht gehen wird. Wir müssen auch Instrumente schaffen, die zur Dämpfung von Schocks bereitstellen.

László Andor ist seit 2010 EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Integration. Die "Wiener Zeitung" sprach mit ihm beim Europäischen Forum Alpbach.