Experten sehen für eine bessere Eindämmung des Infektionsgeschehens primär die Behörden gefordert.
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Die Corona-Kurven in Europa ähneln einander, und so ist es auch mit den Reaktionen der Regierenden. Kaum ein Staatschef, der in den vergangenen Tagen nicht von einer "besorgniserregenden Entwicklung" oder einer "ernsten Lage" sprach. Während im Frühjahr fast alle Länder Europas, wenn auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten, einen Shutdown der Wirtschaft beschlossen und Ausgangsbeschränkungen verhängten, soll nun eine Eindämmung ohne diese ultimative Maßnahme erreicht werden.
Israel ist bisher das einzige Land, das einen zweiten Lockdown verhängt hat. Die Zahlen der Neuinfektionen sind seither zurückgegangen, die Kosten sind jedoch hoch. Und das nicht nur wirtschaftlich. In Österreich wurde im Frühjahr auch eine Leistungsreduktion im Gesundheitswesen registriert. Das betraf etwa die Behandlung von Krebs, Herzinfarkten und chronischen Erkrankungen.
Die Weltgesundheitsorganisation warnt mittlerweile vor Lockdowns, da sie die Armut vergrößern. Die WHO sieht es aus der globalen Perspektive. Das Ausmaß der Armut und des Hungers könnte sich verdoppeln, durch gestoppte Impf- und Medizinprogramme in armen Ländern drohen Millionen zu sterben: an Tuberkulose, Malaria und Masern.
In Österreich wird die Frage des Lockdowns primär in Bezug auf den Wintertourismus diskutiert. Von einigen Tiroler Hoteliers kam bereits die Forderung nach einer Art Präventiv-Lockdown, um die Inzidenz soweit zu drücken, dass es Wintertourismus geben kann. Die westlichen Bundesländer haben deshalb auch die Sperrstunde auf 22 Uhr vorverlegt.
Bundeskanzler Sebastian Kurz richtete am Donnerstag einen "schriftlichen Appell" an alle Bundesländer und mahnte verschärfte Maßnahmen ein. "Derzeit sehen wir in einigen Städten und Ländern Europas eine massive Ausbreitung des Virus, die es notwendig macht, mit sehr drastischen Maßnahmen dagegen zu kämpfen", schrieb der Bundeskanzler. Welche Maßnahmen er meinte, war nicht zu eruieren. Eine Anfrage im Bundeskanzleramt blieb unbeantwortet. Frankreich hatte am Abend zuvor nächtliche Ausgangssperren für Städte angekündigt.
In Österreich ist die Lage im EU-Vergleich besser, auch wenn am Donnerstag mit 1.552 Neuinfektionen ein Höchstwert registriert wurde. Doch es lohnt, genauer auf die Entwicklung zu schauen. Während in anderen Bundesländern die Zahlen steigen, stabilisieren sie sich in Wien, das den vierten Tag hintereinander einen leichten Rückgang beim 7-Tages-Durchschnitt verzeichnete. Auch bei der Belegung der Intensivbetten wies Wien mit 55 Covid-19-Patienten am Donnerstag den selben Wert wie Anfang Oktober aus.
Die Daten aus Wien könnten Hinweise darauf sein, dass die im September beschlossenen Maßnahmen sehr wohl greifen. Es ist jedoch schwierig, deren Wirksamkeit zu evaluieren und zu modellieren. Der Simulationsexperte Niki Popper von der TU Wien berichtet aber, dass sich in den Mobilitätsdaten bereits ein Rückgang der Mobilität zeigt, und aus dem Büro von Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker heißt es, dass beim Contact Tracing die Zahl der durchschnittlich angegebenen Kontakte abnimmt, und zwar von weit über 10 auf nun etwa 8.
Bei Corona gilt: Schweigen ist Gold
Die seit 20. September geltende Begrenzung der privaten Veranstaltungen ohne zugewiesene Sitzplätze auf zehn Personen soll Superspreading weitgehend unterbinden, freilich ist jede Maßnahme nur wirksam, wenn sich die Menschen auch daran halten. Wenn diese Feiern nun aus Lokalen in den (nicht reglementierten) privaten Raum verlagert werden würden, wäre die Wirkung endenwollend. Grundsätzlich, so Popper, sei die Reduktion der Übertragungswahrscheinlichkeit (Hygiene, Abstand) und der Zahl der Kontakte entscheidend.
Es gelte, sich die Eigenschaften des Virus zu Nutzen zu machen, wonach sich dieses vor allem über Cluster verbreite. Einige wenige stecken einen Großteil der Infizierten an. Diese Superspreader müsse man finden.
IHS-Gesundheitsökonom Thomas Czypionka verweist auf die Bedeutung der Aerosole bei der Übertragung. Umso bedeutender sei daher im Kontakt mit anderen, lautes Reden, Schreien oder gar Singen zu vermeiden. Dies müsse, so Czypionka, vermehrt kommuniziert werden, wie es in asiatischen Ländern der Fall sei.
Während nun Salzburg als erstes Bundesland rigide Maßnahmen beschloss, die Gemeinde Kuchl unter Quarantäne stellte, ein generelles Veranstaltungsverbot verhängte und in einigen Regionen sogar Schulen ab der 9. Schulstufe schließt, sehen die Experten primär die Behörden gefordert, schneller zu werden und vor allem den Fokus auf das Superspreading zu legen. Auch der Virologe Christian Drosten argumentiert in diese Richtung.
Bei der Kontaktpersonenermittlung wird primär nach engen Kontakten gefragt. Diese werden häufig aber ohnehin von den Infizierten direkt verständigt, es sind meist Freunde oder Familienmitglieder. Wichtiger sei die Frage: "Waren Sie in den vergangenen fünf Tagen mit mehreren Personen länger und enger in einem Innenraum?" Wird die Frage bejaht, müssen alle Beteiligten dieser Zusammenkünfte sofort ermittelt und isoliert werden. Dafür dienen auch die Anwesenheitslisten.
Ein weiteres Problem des Verschärfens: Wenn die Zahlen sinken, müssen die Maßnahmen dann wieder gelockert werden. Dieses Hin und Her hat sich jedoch als schädlich für die Akzeptanz erwiesen, nicht nur in Österreich. Doch ohne Akzeptanz verlieren die Maßnahmen ihre Wirkung. In Skandinavien wurden die Einschränkungen kaum gelockert, die Akzeptanz ist größer - und die Inzidenz ist niedriger.