Zum Hauptinhalt springen

Österreich und Chile: Eine Beziehung mit viel Luft nach oben

Von Roland Benedikter, Miguel Zlosilo und Andrea Unterweger

Gastkommentare

Chiles Präsidentin Michelle Bachelet war auf Wien-Besuch.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Von den internationalen Medien wegen fehlender Führungsrolle und eher geringer Größe beider Länder wenig beachtet, stattete Chiles Präsidentin Michelle Bachelet vom 30. November bis 1. Dezember Wien einen Arbeitsbesuch ab. Auf dem Programm standen Treffen mit Bundespräsident Heinz Fischer sowie der Vizepräsidentin der Wirtschaftskammer Ulrike Rabmer-Koller. Bachelet kam vom Klimagipfel in Paris. Wie ihr Arbeitsbesuch vor einem Jahr in Deutschland stand das Treffen im Zeichen möglicher Zusammenarbeit bei der - innenpolitisch umstrittenen - chilenischen Hochschul-, Bildungs- und Ausbildungsreform sowie der Vertiefung bestehender Wirtschaftsbeziehungen.

Was genau erhofft sich Chiles derzeitige Mitte-links-Regierung von Österreichs Regierung unter SPÖ-Führung (die ihr aus ihrer Sicht bis zu einem gewissen Grad "natürlich nahesteht")? Und was waren die Hintergründe des Besuchs – die wie immer bei Staatsbesuchen neben innenpolitischer Profilierung in praktischen Problemen und gegenseitiger Hilfe bei Lösungsansätzen bestanden?

Bachelet ist kurz vor Mitte ihrer zweiten Amtszeit (2014-2018) in einer schwierigen Lage – vielleicht der schwierigsten ihrer politischen Karriere. In ihrer siegreichen Wahlkampagne 2013 versprach die Präsidentin, nicht nur die Besteuerungsgerechtigkeit von Firmen und Reichsten zu verbessern und den Mittelstand zu entlasten, sondern - zu diesem Zweck - das Bildungssystem Chiles zu reformieren und die Studiengebühren an den Universitäten abzuschaffen, um gleichen Zugang für alle zu gewährleisten.

Chile, das einzige OECD-Mitglied Südamerikas und laut GINI-Index eines der ungleichsten Länder der Welt, hat die pro Kopf und im Einkommensvergleich höchsten Studiengebühren der Welt und ein auch qualitativ sehr ungleiches Bildungssystem. Das ist unter anderem ein Erbe der neoliberalen Politiken der Jahre von Diktator Augusto Pinochet (1915-2006, Diktator von 1973-1990) sowie der auf ihn folgenden Mitte-Rechts-Übergangsregierungen zur Demokratie bis mindestens zur Wahl des Sozialisten Ricardo Lagos im Jahr 2000. Weil der Bildungsbereich in Chile wie in den USA einen höheren Stellenwert als in Europa für beruflich-soziale Mobilität und allgemeine gesellschaftliche Chancen hat, hat Bachelet die Bildungsreform zum Kernstück ihres multidimensionalen, der Bestrebung nach in alle Bereiche ausstrahlenden "Kulturwandels" der Nation erkoren.

Nach einer aufsehenerregenden Anti-Reform-Kampagne unter Führung eines Enkels von Pinochet, Rodrigo Pinochet, und zahlreichen Anfechtungen in Parlament und Öffentlichkeit soll die Bildungsreform als Kernstück der Gleichheitskampagne Bachelets noch im Dezember mittels Gesetzentwurf zur Abstimmung eingebracht werden. Österreichs System des Hochschulzugangs dient dabei in Geschichte und Gegenwart als eines der argumentativen und sachlichen Vorbilder.

Doch die Reform wird von innenpolitischen Krisen gefährdet. Eine Korruptionsaffäre rund um den Sohn der Präsidentin, dem ehemaligen Leiter der Präsidialabteilung für Soziales und Kultur, Sebastian Devalos, nimmt negativen Einfluss auf die Popularität der Regierung. Auch der fallende Kupferpreis trägt dazu bei, die überproportional stark von Ressourcenabbau und ihrem globalen Export etwa in Länder wie China, Chiles wichtigsten Handelspartner, abhängige chilenische Wirtschaft zu schwächen. Dadurch wird das Geld für die Reformen knapp - und die Mitte-Rechts-Opposition kann das Vorhaben populistisch bedrängen.

Der Besuch Bachelets in Österreich sollte, wie andere Initiativen, für die Verabschiedung der Reform im internationalen Umfeld Stimmung machen und diese ins Land zurückspiegeln. Das Kernthema Bildungsreform hatte aber auch konkretere Gründe. Bachelet, begeisterte Anhängerin nicht nur des breiten Zugangs zu tertiärer Bildung, sondern vor allem auch des dualen Ausbildungssystems Österreichs, erschien nicht zufällig in Begleitung ihrer Bildungsministerin Adriana Delpiano. Diese beriet sich mit ihrer österreichischen Amtskollegin Gabriele Heinisch-Hosek über "Best practice"-Beispiele und Fragen der Transfermöglichkeit – nicht ohne Ironie gerade in Zeiten einer ebenfalls nicht gerade unpolemischen österreichischen Bildungsreformdiskussion.

Chile will in den kommenden Jahren per groß angelegtem Regierungsprogramm massiv Qualitätsausbildung sowohl importieren wie in Anlehnung an internationale Vorbilder selbst bei sich aufbauen – darunter in erster Linie im Austausch mit Europa. Das betrifft vor allem die Berufsausbildung. Die derzeitige Ausbildungssituation Chiles spaltet sich in zwei Lager: einerseits die akademische, die oft wenig mit dem Arbeitsalltag zu tun hat, und andererseits die technische, der oft eine international vergleichbare Qualität fehlt. Bachelet kritisierte seit ihrem Amtsantritt, dass der Bezug von Studierenden zur Arbeitswelt vernachlässigt würde, wenn wie bisher nur in geringem Maß Ausbildungskooperation zwischen Unternehmen und Schulen stattfindet.

Hier kann, so die Überzeugung der Präsidentin, der Import des deutschsprachigen dualen Ausbildungsmodells von Handwerkern und Facharbeitern, das neben Österreich ähnlich auch Deutschland und Südtirol praktizieren, zu Verbesserung beitragen. Duales Ausbildungsmodell bedeutet eine praktische Ausbildung im Betrieb bei gleichzeitiger theoretischer Schulung an Fachschulen sowie die Möglichkeit zu späterem Hochschulzugang, was es Eltern und Schülern erleichtert, sich statt für ein reines Schulstudium für eine berufsbildende Lehre zu entscheiden.

Dieses Modell hat sich als Erfolg erwiesen. Es erhöht nicht nur die Qualität der Arbeit – was mit ein Grund etwa für die globale Exportweltmeisterrolle Deutschlands (und damit auch der österreichischen Zuliefererindustrie) ist, die nach Überzeugung internationaler Experten weniger auf technologischer Führung, als vielmehr auf Wertarbeit beruht. Sondern es stärkt auch die Struktur von Klein- und Mittelbetrieben, die das kapillare Grundsystem mittlerer und kleiner Wirtschaften darstellen, von dem deren Nachhaltigkeit, Widerstandsfähigkeit und Selbsterneuerungsfähigkeit gerade in Zeiten globalen Wettbewerbs immer stärker abhängt.

Mit dem Anliegen, dass Österreich beim Aufbau eines ähnlichen Systems in Chile helfen soll, reiht sich das Vorreiterland südamerikanischer Entwicklung und Rollenmodell für den globalen Süden in den weltweiten Trend ein, das duale Ausbildungssystem Mitteleuropas zur Stärkung wirtschaftlicher und sozialer Resilienz zu übernehmen. Andere Mächte wie die USA und China versuchen derzeit genau dasselbe, weil sie ihre Abhängigkeit von international operierenden Großfirmen verringern wollen, die kaum Steuern zahlen und wenig soziale Bindung zeigen.

Österreich ist sich des Werts dieser Hilfe im bilateralen Austausch noch zu wenig bewußt, schlägt daher noch viel zu wenig diplomatisches, strategisches und Handelskapital aus dem Export des dualen Ausbildungsmodells. Hier ist noch viel Luft nach oben für intelligentere Nutzung und Zusammenarbeit. Ein Bruno Kreisky hätte ein solches Schlüsselscharnier zu intensiveren internationalen Beziehungen weit umfassender zur Stärkung transnationalen gesamtgesellschaftlichen Dialogs und der Einflussnahme Österreichs und Europas auf internationale Fortschritts- und Gerechtigkeitsfragen genutzt.

Ein zweiter großer Gesprächspunkt bei Bachelets Besuch waren die Wirtschaftsbeziehungen im allgemeinen. Hier verhält es sich ähnlich. Das Andenland ist neben Brasilien einer der wichtigsten südamerikanischen Handelspartner Österreichs. Besonders seit dem Jahr 2003, dem Inkrafttreten des EU-Chile-Assoziationsabkommens, unterhält Chile rege Wirtschaftsbeziehungen zu Österreich. Das Land liefert vor allem Kupfer, Zellulose und weitere Rohstoffe nach Österreich und bezieht von Österreich im Austausch Fertigerzeugnisse und Investitionen. Am 1. Januar 2016 tritt ein neues Doppelbesteuerungsabkommen in Kraft, das doppelte Steuerbelastung auf Einkommen und Vermögen ausschliessen soll, um die Wirtschaftsbeziehungen weiter zu stärken – eine wichtige und richtige Massnahme.

Berührungspunkte also zuhauf. Worin liegt die Perspektive bilateraler Zukunft? Neben dualem Ausbildungsmodell und Verbesserung der Rechtsbeziehungen ist es als dritter Kernbereich Chiles Energieversorgung, die Chancen für österreichische Firmen eröffnet. Chile versorgt sich noch immer vorwiegend aus fossilen Energieträgern, will aber im Rahmen der weltweiten Umweltinitiative auch im Gefolge möglicher Ergebnisse des Pariser Gipfels 2015 stärker auf erneuerbare Energieträger umsteigen. Bachelet möchte die Energiewende in ihrem Land unter anderem durch eine Dezentralisierung der Stromerzeugung stärken, weshalb Private Dachanlagen mit einer Kapazität von 100 kW für den Eigenverbrauch installieren und dabei überschüssigen Strom ins nationale Versorgungsnetz einspeisen können.

Auch die Themen "grüne Energie" und "grüne Jobs" (green jobs) spielen eine zunehmende Rolle auf Bachelets Reformagenda, um diese als progressiv zu profilieren. Hier könnte sich Österreich, das aus südamerikanischer Sicht betreffend ökologieverträgliche Trends in der EU mit als Vorreiter gilt, ein weiterer wichtiger Bereich der Kooperation erschliessen. Auch hier gilt: Es besteht noch viel Luft nach oben für sinnvolle Multiebenen-Zusammenarbeit, die in viele gesellschaftliche Bereiche ausstrahlt, darunter nicht zuletzt im Hinblick auf wachsend wichtige Bereiche wie Umweltgerechtigkeit, gesellschaftliche Partizipation und internationale Nachhaltigkeitskooperation.

Fazit? Wenn sich die beiden Staatsoberhäupter Fischer und Bachelet in Wien dafür aussprachen, solidarisch dafür zu sorgen, dass weltweit bessere Lebensbedingungen vorherrschen, nicht zuletzt um das Problem zunehmender Migrantenkrisen an der Quelle anzugehen, dann sind die drei Kernbereiche besserer bilateraler Kooperation: duales Ausbildungssystem, Abbau von institutionellen und Rechts-Schranken und Energie- und Umweltkooperation drei gute Ansatzpunkte, damit konkret in den eigenen Beziehungen zu beginnen. Aufgrund von Chiles wirtschaftlicher Vorbildrolle kann der österreichische Beitrag nicht nur die Gleichheitsfrage in einem der ungleichsten Länder der Erde positiv beeinflussen, sondern auch Wirkungen auf das umfassendere südamerikanische Umfeld erzeugen. Österreich kann und sollte dazu beitragen, Europa stärker als bisher mit Südamerika zu verbinden und mittels "best practice" Beispielen präsenter zu machen.

Was bleibt vom Staatsbesuch Bachelets für die beiden Länder?

Vieles Wichtige kam nicht zur Sprache. Chile hat am 5. Oktober mit 11 anderen Ländern das Transpazifische Partnerschaftsabkommen (TPP) abgeschlossen, das einen einheitlichen Handels- und Wirtschaftsraum im Pazifik schaffen soll. Das Abkommen wurde ähnlich wie die derzeit in Verhandlung befindliche Transatlantische Handels- und Investitions-Partnerschaft (TTIP) zwischen den USA und der EU weitgehend geheim und unter Ausschluss von Parlamenten und Nichtregierungsorganisationen verhandelt und unterzeichnet.
Das führt derzeit zu einer massiven Debatte in der chilenischen Zivilgesellschaft, ob das Abkommen ratifiziert werden soll und kann, und was ein derartig intransparentes Verfahren für eine noch junge und in mancherlei Hinsicht "unfertige" Demokratie wie Chile bedeutet. Österreich verhandelt derzeit das TTIP über die europäischen Institutionen mit – auf ähnlich intransparente Weise. Auch Österreich ist wie Chile ein kleineres, hoch entwickeltes Land, dessen Vorteile beim geplanten TTIP-Abkommen so unsicher sind wie die Chiles beim TPP. Ein Austausch von Erfahrungen zur Vermeidung von Fehlern wäre hier mindestens ebenso sinnvoll wie große Reden.

Die Autoren
Benedikter und Zlosilo sind Autoren des neuen Buches: Chile in Transition: Prospects and Challenges for Latin America’s Forerunner of Development (Springer International New York, September 2015, Chile in Transition: Prospects and Challenges for Latin America's Forerunner of Development). In dieser gemeinsam mit Katja Siepmann verfassten interdisziplinären Länderstudie zeichnen sie ein umfassendes Bild von Stand und Perspektiven des einzigen lateinamerikanischen OECD-Landes in Politik, Wirtschaft, Finanzwesen, internationalen Beziehungen, Kultur, Umwelt und in der sozialen Sphäre, analysieren das chilenische Entwicklungs- und Reformmodell und seine Vorbildwirkung für Lateinamerika und den Globalen Süden und zeigen Wege zu einer nachhaltigeren Entwicklung auf. Benedikter ist Senior Scholar des Council on Hemispheric Affairs Washington DC, des führenden liberalen Think-tanks der USA zu inter-amerikanischen Beziehungen, Forschungsprofessor für Multidisziplinäre Politikanalyse am Willy Brandt Zentrum der Universität Wroclaw/Breslau und Vollmitglied des Club of Rome. Kontakt: rolandbenedikter@yahoo.de. Miguel Zlosilo ist Direktor der sozialwissenschaftlichen Forschung und Analyse des Sozialen Marktforschungsinstituts Opina in Santiago de Chile. Kontakt: mzlosilo@gmail.com. Andrea Unterweger ist Juristin mit Spezialisierung auf internationalem Recht in Innsbruck und Bozen. Kontakt: andrea.unterweger@hotmail.com.