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Österreichs Wesen: Soziologe Güngör und Oberrabbiner Eisenberg im Gespräch

Von Walter Hämmerle

Politik
© WZ-Illustration

Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg diskutiert mit dem Soziologen Kenan Güngör über nationale Identität, Migration und die Nationalratswahl.


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Wer sich auf die Suche nach Österreich macht, nach dem Wesen dieses Landes und der Natur seiner Bewohner, der hat eine lange Reise vor sich. Um den Weg ein wenig abzukürzen, hat die "Wiener Zeitung" zwei Kenner zum Gespräch über Österreich gebeten, die einen je spezifischen Blick auf Land und Leute haben: den türkisch-kurdisch-stämmigen Soziologen Kenan Güngör und Paul Chaim Eisenberg, den Oberrabbiner des Bundesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs. Den langen Weg ist übrigens das Team des "Datum"-Magazins gegangen, das mit "Wo sind wir eigentlich? Österreich im Gespräch" ein ganzes Buch dem Thema gewidmet hat.

"Wiener Zeitung": Glauben Sie beide eigentlich an Zufälle?

Paul Chaim Eisenberg: Ein religiöser Jude glaubt nicht an Zufälle. Die Dinge sind irgendwie von Gott beeinflusst. Ich kann Ihnen ein persönliches Beispiel erzählen: Vor vielen Jahren bin ich am israelischen Flughafen Ben Gurion gelandet, gleichzeitig kam dort auch meine spätere Frau an. Wir haben uns am Flughafen kennengelernt. Das kann man jetzt Zufall nennen, ich aber glaube, dass der Liebe Gott mir meine Frau geschickt hat.

Kenan Güngör: Ich hatte diese Unterstützung leider nicht. Aus meiner Sicht hat Zufall systemischen Charakter. So gesehen entsprechen das Universum und unser ganzes Leben dem, was man die unwahrscheinlichste Wahrscheinlichkeit nennen könnte.

Eisenberg: Das gefällt mir!

Güngör: Jeder Moment hat das Potenzial einer einschneidenden Wendung. Das verstärkt sich noch bei gebrochenen Biografien. Grundsätzlich ergibt sich ein Leben aber immer als Kombination aus den unwahrscheinlichsten Wahrscheinlichkeiten.

Also war es die unwahrscheinlichste Wahrscheinlichkeit, dass die Psychoanalyse, diese schonungslose Analyse unseres Selbst, nicht irgendwo, sondern in Österreich und ganz besonders eben in Wien entwickelt wurde.

Eisenberg: Sigmund Freud hätte das nicht tun müssen, aber er hat es getan.

Aber warum in Wien? Warum nicht in London, Paris oder Berlin?

Eisenberg: Vor dem Ersten Weltkrieg wurden fast alle großen kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften nicht nur in Wien, sondern vor allem von Juden erbracht. Das ist eine Tatsache.

Güngör: Die ganze Monarchie wies zu dieser Zeit eine enorme Diversität von Kulturen und Ethnien auf. Gerade in der Hauptstadt entwickelte sich daraus eine besondere Reibungsdynamik mit der Herausforderung ständiger Anpassungsleistungen. Diese Komplexität führt zu einer gesteigerten Reflexivität, aber auch zu verstärkten Differenzierungen, Freiheiten und Widersprüchlichkeiten. Nicht die Vielfalt per se führt zu Innovationen, sondern der konstruktive Umgang mit ihr.

Eisenberg: Bei Freud war es nicht nur der Faktor Wien. Er war Jude und zugleich säkular. Die Religion beschäftigte ihn, obwohl er ihre Regeln nicht befolgte.

Gibt es so etwas wie eine nationale oder gar eine wienerische Identität? Oder sind das nur Klischees?

Eisenberg: Wenn ich im Ausland gefragt werde, ob ich mich als Österreicher fühle, antworte ich impulsiv, dass ich mich eigentlich eher als Wiener betrachte. Ohne es zu werten, ist das für mich doch ein erheblicher Unterschied. Mit Tracht habe ich einfach wenig zu tun, mit der Wiener Atmosphäre von Kaffeehaus und Burgtheater dafür umso mehr. Ich kann zwar nicht Wiener sein, ohne Österreicher zu sein, aber ich betone doch mein Wienertum stärker.

Güngör: Die Stadt lässt sich aber auch von Größe und Geschichte nicht mit den anderen Städten Österreichs vergleichen. Ein vergleichbares Ausmaß an Diversität findet man nirgends. Ich persönlich spüre sehr, dass Wien 300 Kilometer weiter östlich als Berlin liegt, man erkennt sofort das Balkaneske im Subtext dieser Stadt. Das hat mich überrascht. Es gibt den schönen Satz, wonach die Wiener Wien nicht verdienen.

Soziologe Kenan Güngör.
© Moritz Ziegler/Wiener Zeitung

Eisenberg: Ja, das finden viele in Österreich. Weil das Land die Form einer liegenden Keule oder etwas Ähnlichem hat, sind die Distanzen vom Westen zur Hauptstadt im Osten sehr groß, während Wien praktisch neben Bratislava und Budapest liegt.

Güngör: Aber woher kommt diese Unzufriedenheit, dieser Pessimismus, den man in Wien im Unterschied zum Rest Österreichs spürt? Ich bin kein Mentalitätsforscher, aber womöglich hat hier die starke Zuwanderung von Slawen und Ungarn eine Rolle gespielt, die für diese mentale Disposition besonders anfällig sind.

Man sagt den Österreichern einen Hang zu überschießenden Gefühlsregungen nach. Da gibt es die maßlose Selbstüberschätzung, das Gefühl, im Zentrum zu stehen, genauso wie - vor allem in Literatur und Theater - eine beachtliche Autoaggression und Selbstbeschimpfung. Sehen Sie das auch so?

Eisenberg: Ja, und das hat mitunter sogar fast eine politische Dimension. Weil wir jetzt Wahlkampf haben, da gibt es ja auch eine Partei, die vor allem mit Übertreibungen arbeitet.

Nur eine? Oder ist es nicht so, dass jede Partei die Gegenwart danach beschreibt, ob sie selbst gerade regiert oder nicht? Entsprechend schwankt die Zuspitzung der Gegenwartsbeschreibung, ohne dass sich die wesentlichen Fakten geändert hätten.

Eisenberg: Das ist eine menschliche Grundtendenz: sich selbst zu loben und die anderen zu kritisieren.

Güngör: Hier möchte ich jetzt als Soziologe argumentieren. Die Menschen, die ein klar linkes oder rechtes Weltbild haben, die sind auch in ihrem Blick auf das Land und die Welt relativ stimmig. Aber diese beiden Gruppen bilden eben nur eine Minderheit. Mehr als die Hälfte der Österreicher verfügt über ein höchst widersprüchliches Weltbild. Wie eine Sache beurteilt wird, hängt dann vor allem von der Fragestellung ab. Viele Menschen antworten, wenn man sie fragt, ob es zu viele Flüchtlinge gibt und man nicht die Grenzen schließen sollte, mit ja. Sie stimmen aber genauso zu, wenn es darum geht, ob man nicht Menschen in Not helfen müsse. Diese Ambivalenz ist eine Tatsache. Und die meisten Menschen können mit dieser Ambivalenz nur schlecht umgehen.

Eisenberg: Das stimmt alles. Eine Grenze wird aber dort erreicht, wenn Menschen sagen, die meisten Flüchtlinge seien nur Wirtschaftsflüchtlinge, und dann den Schluss ziehen, diese seien selbst schuld, wenn sie in Gummiboote einsteigen, weshalb es keine Pflicht zur Rettung gebe. Ich bin froh, dass Italien jetzt eine andere, weniger extreme Regierung hat.

Darauf will ich hinaus: Die Italiener haben sich nicht geändert, aber unser Blick auf Italien schwankt extrem je nachdem, welche Parteien gerade regieren. Ist es in Österreich nicht ganz genauso, je nachdem welche Parteien gerade an der Regierung sind?

Eisenberg: Darf ich etwas Politisches sagen?

Unbedingt!

Eisenberg: Bei uns in der Kultusgemeinde spricht eigentlich der Präsident zu politischen Fragen, nicht der Rabbiner. Trotzdem sage ich jetzt etwas. Für mich ist klar, dass der Kurz (ÖVP-Spitzenkandidat Sebastian; Anm.) die Wahl gewinnen wird. Für mich ist aber auch klar, mit wem er nicht wieder koalieren sollte. In den vergangenen Jahren sind, aus meiner Sicht völlig unnötigerweise, Aggressionen in Richtung SPÖ hochgekommen und Brücken abgebrochen worden. Wenn man etwas für Österreich tun will, muss man über den eigenen Schatten springen. Das gilt, aber das wirklich nur nebenbei, natürlich auch für Israel.

Paul Chaim Eisenberg, Oberrabbiner des Bundesverbandes der Israelitischen Kultusgemeinden Österreichs.
© Moritz Ziegler/Wiener Zeitung

Ja, aber konsequent gedacht muss sich dieser Appell zum "Über-den-eigenen-Schatten-Springen" doch an alle richten, also auch an die Kritiker der FPÖ.

Eisenberg: Prinzipiell ja, aber bei dieser einen Partei geschehen Dinge, bei denen ich nicht weiß, ob ich weinen oder lachen soll, etwa als der damalige Parteichef Strache auf dem Akademikerball sich vom Antisemitismus distanzierte.

Das haben etliche Strache-Kritiker als mutig empfunden.

Eisenberg: Ja, das war auch wirklich mutig. Nur haben sich die Antisemiten schnell wieder gezeigt. Mir sind ja die Rechten in den linken Parteien und die Linken in den rechten Parteien die Allerliebsten.

Kann es sein, dass wir in Österreich die Rolle von Politik überschätzen? Diese zielt oft auf Inszenierungen und Symbolik ab, und es dauert Jahre und länger, bis sich die realen gesellschaftlichen Verhältnisse verändern.

Güngör: Dass die Politik den eigenen Einfluss überschätzt, ist keine österreichische Besonderheit, sondern ein globales Phänomen. In ihrem Denken existiert da immer noch die Idee vom absoluten Staat, dabei ist die Politik längst nur noch ein Machtzentrum unter vielen. Die stärkste Wirksamkeit entfaltet Politik eher im Negativen als im Konstruktiven, das gilt für die von ihr ausgehenden Emotionen wie Handlungen. Die Handlungsfähigkeit heutiger Politik hat deshalb ein größeres Potenzial zur Destruktion als zum konstruktiven Gelingen. Es ist sehr viel schwerer, die Arbeitslosigkeit durch Politik zu senken, als sie durch falsch gesetzte Maßnahmen zu erhöhen.

Ist Zukunftsangst heute ein in Österreich besonders kräftig ausgeprägtes und gehegtes Gefühl?

Eisenberg: Ja, bei mir schon.

Ist das eine Frage des Alters oder der gesamtgesellschaftlichen Disposition?

Eisenberg: Das Alter spielt schon eine Rolle, aber im Sinne von Altersweisheit. Schauen Sie sich nur den Zustand der Umwelt an. Und es gibt Anschläge, Anschläge, Anschläge - nicht nur gegen die anderen, sondern auch gegen die eigenen Leute, und dann wird noch "Allahu Akbar" geschrien, um den lieben Gott auch noch hineinzuziehen! Sogar als Rabbiner ist mir ein anständiger säkularer Mensch lieber als ein fundamentalistischer Gläubiger.

© Moritz Ziegler/Wiener Zeitung

Güngör: Wir erleben heute das Paradox, dass ausgerechnet die Gesellschaften, die relativ gesichert leben, am ängstlichsten sind. In Israel haben die Leute gelernt, mit Anschlägen zu leben; auch in London aufgrund der Geschichte mit der IRA. Im Gegensatz dazu ist das Angst-Empfinden in Österreich oder der Schweiz fast so ausgeprägt wie in Mexiko City, einer Stadt mit hoher Gewaltrate. Je sicherer eine Gesellschaft ist, desto höher ist die Ängstlichkeit. Ein weiterer Aspekt hat mit der medialen Entwicklung zu tun: Obwohl die Zahl der Demokratien langfristig stetig steigt, führen die Non-Stopp-News über Krieg und Gewalt zum Gefühl, dass die Welt aus den Fugen ist. Und die Risiken werden immer diffuser, sei es die Angst vor den Folgen eines Aktiensturzes in New York oder des Klimawandels. In Österreich fehlt uns die Widerstandsfähigkeit angesichts dieser neuen Verletzlichkeit durch globale Ereignisse. Das führt beim Thema Migration zur generellen Ablehnung von Flüchtlingen und dem Drang, die nationalen Grenzen zu schützen.

Apropos Migration: Österreich durchleidet eine zugespitzte Diskussion über den Umgang mit Migration. Dabei gibt es kaum ein vergleichbares Land, das ähnlich viele Menschen in ähnlich kurzer Zeit ähnlich erfolgreich integriert hat. Und trotzdem kritisieren wir uns selbst mit einer ungeheuren Radikalität. Warum?

Güngör: Da muss ich widersprechen. Österreich macht viel, aber radikale Selbstkritik gehört nicht zu seinen nationalen Eigenschaften. Richtig ist, dass die politischen Flügel das Land entweder radikal kritisieren oder entschieden in Schutz nehmen.

Die internationalen Berichte über das Land nehmen diese radikale Zuspitzung sehr wohl auf.

Güngör: Diese Medien spiegeln nicht die Realität, sie reduzieren sie auf diese Zuspitzung. Wer Österreich nur aufgrund der Informationen aus ausländischen Medien kennt, könnte tatsächlich eine verzerrte Realität wahrnehmen: Ein Land mit nicht aufgearbeiteter NS-Vergangenheit, allenfalls semi-demokratisch mit starken autoritären Strukturen - und mit einem Problem mit Kellern, wofür die Fälle Fritzl und Kampusch gesorgt haben. Aber das sind verzerrte Wahrnehmungen, Österreich selbst würde ich eher als gemütlich beschreiben, auch zu sich selbst, im Positiven wie Negativen. Indem man nicht so genau hinsieht, lässt man einander leben. Genauigkeit und starke Kritik sind da nur hinderlich.

2018 war für Österreich ein Gedenkjahr: 1848, 100 Jahre Republik sowie 80 Jahre "Anschluss". Die großen Reden hätten unterschiedlicher nicht sein können: Während der nachgeborene Autor Michael Köhlmeier die FPÖ attackierte, mahnte der Holocaust-Überlebende Arik Brauer zur Versöhnung, auch und gerade mit der FPÖ.

Eisenberg: Arik Brauer zählt zu den letzten Überlebenden der Schoah. Wenn so ein Mann sagt: "Die Dinge haben sich geändert, es ist heute viel besser", dann hat er nicht unrecht. Es gibt aber auch die anderen, die sagen: "Es ist noch lange nicht so, wie es eigentlich sein sollte." Diese Debatte gibt es auch in der jüdischen Gemeinde: Wir sind sehr glücklich mit Kurz und sehr unglücklich mit seinem Ex-Partner. Also muss man Folgendes sagen: "Herr Kurz, wir wählen Sie, wenn Sie wissen, mit wem man nicht koalieren soll."

"Wo sind wir hier eigentlich? Österreich im Gespräch. Von Stefan Apfl, Sebastian Loudon, Alexander Zach; Brandstätter Verlag, Wien 2019.
© Brandstätter

Güngör: Es gibt Wertestudien, an denen man gut ablesen kann, welche Haltungen abnehmen und welche zunehmen. Der Antisemitismus hält sich bei 10, 12 Prozent der Bevölkerung; stark abgenommen hat Homophobie, was auf eine gesellschaftliche Liberalisierung hinweist. Dieser Tiefenströmung steht jedoch das Potenzial einer Hysterisierung in Krisen gegenüber, wie wir es bei der Flüchtlingswelle erlebt haben. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Angst vor einem Kontrollverlust, auf den kleine Länder noch sensibler reagieren als größere.

Letzte Frage: Was sind die größten Herausforderungen, vor denen Österreich in den nächsten Jahren steht?

Eisenberg: Österreich muss sich als gleichberechtigtes Mitgliedsland der Europäischen Union bewähren. Das tut es zwar eh meistens, aber eben nicht immer. Und ja kein Öxit!

Güngör: Weil alle Migrationsfragen so überspitzt werden, sehe ich die Gefahr einer autoritären Wende im Umgang mit Minderheiten. Mittelfristig würde das nicht nur Migranten treffen. Um das zu verhindern, ist es wichtig, dass die bürgerliche Mitte stabil bleibt und nicht nach rechts driftet. Zudem muss Österreich die globalen und lokalen Herausforderungen angehen und sie nicht gegeneinander ausspielen. Dafür muss es sich in der EU aktiv zur Lösung der globalen Probleme einbringen.