Ein Besuch bei der "Statistik Austria", deren Daten oft die Grundlagen für politische Entscheidungen liefern.
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Irgendwann als Jugendlicher war "Statistisch betrachtet" eine Phrase, mit der man sein Halbwissen mit anderen teilen wollte: "Statistisch betrachtet" schwänzte man alle dreieinhalb Tage die Schule und rauchte dabei im Kaffeehaus 4,26 Zigaretten pro Stunde, oder so. Diese Daten waren aber natürlich nicht annähernd so verlässlich wie jene der heimischen Statistik Austria. Von dieser wissen wir zum Beispiel: Dass die 8-Millionen-Einwohner-Marke Österreichs im Jahr 2000 überschritten wurde, und dass im Jahr 2060 voraussichtlich 9,37 Millionen hier leben werden. Oder dass die Gemeinde Gramais in Tirol mit 47 Einwohnern die kleinste ist, von denen trotzdem jeder "statistisch betrachtet" ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von jährlich 33.200,- Euro erwirtschaftet. Jeder der übrigen 8.507.739 Österreicher natürlich auch.<p>
Vier Direktionen
<p>In unübersichtlichen Zeiten helfen oft nur nackte Zahlen, obwohl auch diese mittlerweile oft angezweifelt werden, wann immer dieser Zweifel jemandem nützt. Selbst Institutionen, denen man früher "ung’schaut" vertraut hat, werden heute mit populistischem Geschrei sturmreif geschossen, Stichwort: Lügenpresse!<p>Wem also noch vertrauen?<p>Die Büros, in denen die Statistik Austria untergebracht ist, liegen in der Guglgasse im 11. Wiener Gemeindebezirk, nahe den Gasometern. Die mehrgeschossigen Büroräumlichkeiten sind durch eine Schranke zu betreten, der Portier sitzt in einer Loge, deren Temperatur um gefühlte 57 Prozent über dem statistischen Durchschnitt liegt. Im Innenhof des Gebäudes stehen die Raucher, und es sind ganz schön viele. Darum weist ein Zettel an der Wand darauf hin, dass sich niemals mehr als 30 Personen gleichzeitig im Hof aufhalten sollen, bloß nicht drängeln. Die stehen dann in Hauspatschen und übergeworfenen dicken Steppjacken herum, aber eine Statistik darüber, wie viele Arbeitsstunden übers Jahr gerechnet beim Rauchen verloren gehen, gibt es nicht.
<p>Eine Catering-Dame verkauft dort vormittags ihre verschweißten Wurstsemmeln und Mars-Riegel (so die nicht zurückgezogen wurden). Es geht ihr gut, versichert sie auf Nachfrage, der Umsatz wäre "schön". Jedoch kommt der erwirtschaftete Gewinn daraus nicht ihr zugute, denn sie ist nur eine von momentan österreichweit 1.744.400 unselbstständig erwerbstätigen Frauen, 45,9 Prozent davon allerdings in Teilzeit. Trotzdem wirkt die Dame glücklich, und das mag vielleicht daran liegen, dass Österreich "statistisch betrachtet" eine hohe Zufriedenheit aufweist, was die Lebensqualität betrifft. Das könnte die Dame im Bericht "Wie geht es Österreich?" nachlesen, der neben zahlreichen anderen Publikationen - wie "Wanderungsstatistik", "Gerichtliche Kriminalität" und eben auch "Frauen in Erwerbsarbeit" - in der Vitrine im Foyer ausgestellt ist.<p>Die Organisation der Statistik Austria umfasst vier Direktionen: für Unternehmen, Raumwirtschaft/Verkehr/Tourismus, Volkswirtschaft sowie Bevölkerung. Letztere wird von Univ. Doz. Dr. Josef Kytir geleitet, auf seiner Visitenkarte heißt er "Director Social Statistics". Hier wird viel Englisch gesprochen, denn Zahlen machen vor Grenzen nicht halt. Den heimischen Regionalförderungen der EU etwa liegen durchwegs Zahlen der Statistik Austria zugrunde, vermutlich aus "Raumwirtschaft und Landwirtschaft".<p>Kytir und seine Mitarbeiter sind wenig überraschend der Meinung, dass ihre Institution jedes Vertrauen verdient. Die Statistik beschäftigt zur Zeit über 700 Mitarbeiter, die hauptsächlich aus Absolventen von Sozialwissenschaften, Psychologie und Wirtschaftswissenschaften rekrutiert werden; in der Direktion Volkswirtschaft arbeiten vor allem Statistiker, Methodiker und Mathematiker. Jedenfalls sind es immer Menschen, die "zahlenaffin sind und quantitativ arbeiten können", sagt Kytir. Und die vielleicht auch gerne rauchen.<p>Unter seiner Leitung werden in Österreich verpflichtende Unternehmensbefragungen ebenso durchgeführt wie verpflichtende Personenbefragungen, darunter der bekannte "Mikrozensus", aber auch Spezial- oder sogenannte Ad-hoc-Befragungen wie etwa "Jugend am Arbeitsmarkt". Die dabei erhobenen Daten liefern die Grundlage für Entscheidungen der Politik.<p>"Die Statistik Austria", erklärt der Professor zu Anfang unseres Gespräches, "hat in Österreich eine lange Tradition." Im Zuge der Verwaltungsreform Maria Theresias wurde ein erstes "Statistisches Bureau", wie es damals hieß, eingerichtet. In der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg gab es fachliche und technische Weiterentwicklungen; die Erhebungs- und Publikationstätigkeit erweiterte sich vor allem in vertiefter Zusammenarbeit mit den heimischen Universitäten.<p>In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1999 hieß die Statistik Austria dann "Statistisches Zentralamt Österreichs". Im Jahr 2000 schließlich erfolgte mit entsprechendem Bundesgesetz die Umbenennung in Statistik Aus-tria, und sie wurde aus der Bundesverwaltung ausgegliedert. Seither handelt es sich um eine "nicht gewinnorientierte Bundesanstalt Öffentlichen Rechts", der "niemand etwas anschafft", so Kytir, womit "ihre wichtige Rolle für die demokratische österreichische Gesellschaft zementiert wurde".<p>
Hohe Datenqualität
<p>Der Wert der Statistik Austria für das Funktionieren unserer Demokratie sei enorm, sagt Kytir: "Wie sonst soll eine Bürgergesellschaft sich ein Urteil bilden über die von der Politik gemachten Versprechen?" Jeder Österreicher kennt schließlich den Zank um die Interpretation bestimmter Zahlen: Steigt oder sinkt die Arbeitslosigkeit? Gibt es wirklich so viele Verbrechen, oder ist das nur "gefühlt"? Ruiniert uns der Zuzug von Flüchtlingen, oder nützt er der Wirtschaft?<p>Wer sich nicht auf sein Gefühl verlassen will, schaut bei und in der Statistik nach. Die den Publikationen zugrunde liegende Datenqualität müsse natürlich ex- trem hoch sein. Um dies zu erreichen, bedürfe es einer hohen Bereitschaft der Bevölkerung, an den Befragungen überhaupt teilzunehmen.<p>Dies erklärt Frau Mag. Baumgartner, die für die Ermittlung der Daten zuständig ist und einen Pool von 155 Erhebern betreut. "Vertrauen in die Arbeit der Statistik Austria erreicht man zunächst über Aufklärung", lautet ihr Kernsatz - und diese treibt sie unermüdlich voran. Wird man etwa - über zufällige Ermittlung - ausgewählt, an den Erhebungen zum Mikrozensus teilzunehmen, erhält man zunächst einen Brief, in welchem man über die gesetzliche Verpflichtung zur Teilnahe an der Befragung aufgeklärt, über die Fragen sowie die rechtliche Grundlage zu jeder Frage informiert wird. Reagiert man darauf nicht oder hat man keine Lust dazu, bekommt man einen Rsb-Brief, der die Lust steigern oder zumindest die Angst vor rechtlichen Konsequenzen schüren soll. Öffnet man auch diesen Brief nicht, bekommt man Probleme.<p>Wie oft sich "statistisch betrachtet" jemand sträubt? Frau Baumgartner sagt: "Praktisch nie. Die Bevölkerung hat hohes Vertrauen in die Statistik Austria und selbst großes Interesse an den Zahlen, die sie liefert." Daher sei die Bereitschaft, sich befragen zu lassen, "an sich sehr hoch". Für manche Befragungen oder Erhebungen gibt es überdies Geld. Wer der Statistik Zahlen zu seinem Strom- und Gasverbrauch über den Zeitraum von sechs Monaten liefern möchte, bekommt dafür 100 Euro; die Führung eines Haushaltsbuches mit detaillierten Angaben über Einnahmen und Ausgaben über mehrere Wochen hinweg schlägt sich mit 50 Euro zu Buche.<p>Freilich: Die "Arge Daten" wittert gerne unerlaubten Datendiebstahl, wo Daten erhoben werden, oder stellt die Statistik Austria unter Verdacht, sich über die gesetzlich erlaubten Erhebungen hinaus tiefer ins Privatleben der Befragten hineinzufragen. Auf ihrer Homepage werden daher Tipps für die Befragung geliefert, und in einem umfangreichen Leitfaden weist man auf die angeblich undurchsichtige Rechtslage bezüglich mancher Fragen hin.<p>Frau Baumgartner bestreitet Unklarheiten und Intransparenz kategorisch und verweist einmal mehr auf die umfangreiche Aufklärungsarbeit: "Am wichtigsten ist das Grundvertrauen der Bevölkerung in die Qualität und Objektivität der erhobenen Zahlen, in die klaren Methoden der Ermittlung, und in nachvollziehbare, transparente Konzepte." Dazu kämen Metainformationen, die in anderen Ländern nicht selbstverständlich wären, z.B. Informationen darüber, wie genau die Zahlen hochgerechnet würden. All das ist für jeden detailliert und transparent auf der Homepage (www.statistik.at) nachlesbar.<p>Gäbe es tatsächlich Beschwerden von Respondenten, würde sie jeder einzelnen nachgehen und vollumfängliche Aufklärungsarbeit leisten.<p>
Sicher wie Fort Knox
<p>Idealerweise soll eine Befragung im häuslichen Umfeld stattfinden, denn der Befragte soll sich wohlfühlen, das fördere die Qualität der Antworten. Diese werden im Zuge der Befragung in den Computer der Erheber eingegeben und von dort verschlüsselt in den hauseigenen Server eingespeist. Dieser wäre, so der beliebte Vergleich, "sicher wie Fort Knox". Im Haus werden die Daten dann von Experten verarbeitet und anschließend in Form von Texten, Tabellen und Grafiken publiziert. Dafür gibt es einen Veröffentlichungskalender, der strikt eingehalten werden müsse. Wünsche der Politik, z.B. etwaige schlechte Arbeitsmarktdaten wahlkampfbedingt erst später zu veröffentlichen, hätten somit keine Chance.<p>Dr. Franz Ferdinand Eiffe ist Leiter der Stabsstelle Analyse und verantwortlich für die Publikation "Wie geht es Österreich?". Bis 2008 war common sense, dass es einer Bevölkerung umso besser gehe, je höher das Bruttoinlandsprodukt sei. Das führte zum Dogma: Wachstum um jeden Preis. Mittlerweile sehe man das differenzierter. Daher werden in "Wie geht es Österreich?" neben Fragen nach materiellem Wohlstand und Lebensqualität auch welche nach umweltorientierter Nachhaltigkeit gestellt. "Das BIP mit seiner wachstumsgetriebenen Ideologie ist ja tendenziell eher umweltschädigend", sagt Eiffe. Daher werde ein differenziertes Bild über unsere Gesellschaft wiedergeben, das nicht mehr nur aus der Zahl des erwirtschafteten BIP (exakt 322.590.000.000,- Euro) bestehe.<p>Und wie geht es uns? "Sehr gut", sagt Eiffe. Für dieses Wohlergehen mag auch die eine oder andere Wurstsemmel zwischendurch sorgen.
Manfred Rebhandl, geboren 1966, lebt als Autor in Wien und schreibt Krimis (zuletzt "Töpfern auf Kreta", Czernin 2015) und Reportagen für Zeitungen.