Zum Hauptinhalt springen

Osterspaziergang im Totenwald

Von Markus Kauffmann

Kommentare
Markus Kauffmann , seit 22 Jahren Wiener in Berlin, macht sich Gedanken über Deutschland.

Wenn das Wetter hält, bietet sich vor den Toren Berlins ein Ausflugsziel für einen Osterspaziergang besonderer Art an: Eine Wald- und Kulturlandschaft mit 120.000 Toten.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 15 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Am 8. April vor 100 Jahren wurde in Stahnsdorf, südwestlich von Berlin, Frau Elisabeth Wenzlewski, Lehrerin im Ruhestand, in einem einfachen Reihengrab zur letzten Ruhe gebettet. Für die Nachwelt ist ihr Name nur erhalten geblieben, weil sie die Erste war, die in dem neu geschaffenen Zentralfriedhof begraben wurde und eine Gedenktafel an sie erinnert.

Nein, mit dem Wiener Pendant kann der Stahnsdorfer Gottesacker, der vielmehr ein "Gotteswald" ist, in vieler Hinsicht nicht mithalten. In Simmering ist alles größer, älter, bedeutender. Aber selbst friedhofsversierte Wiener würden bei einem Gang durch Stahnsdorfs Begräbnisstätte aus dem Staunen nicht herauskommen.

Das beginnt schon bei der Friedhofskapelle, bei deren Anblick man sich nach Norwegen versetzt fühlt. Im Stil nordischer Stabkirchen wurde das Gebäude in nur vier Monaten Bauzeit komplett aus Holz errichtet. Auch das Interieur ist aus Holz. Bemalung, Glasfenster im Jugendstil und Orgel sind im Originalzustand erhalten.

Und vor allem das Gelände! Man könnte beim Durchwandern dieses mehr als zwei Quadratkilometer großen, dicht bewaldeten Parks vergessen, in einer Nekropole zu sein, würden nicht die verstreuten Grabdenkmäler, Mausoleen und Reliefs immer wieder einmal daran erinnern.

Angelegt wurde die kunstvolle Landschaft vom Gartenbau-Ingenieur Louis Meyer, der den vorhandenen Wald nur äußerst behutsam antastete, Sichtachsen setzte, wo dies möglich war, Alleen und Rondelle schuf und den Baumbestand stellenweise ergänzte. Seine Existenz verdankt der Friedhof dem rasanten Bevölkerungswachstum Berlins. Von 1850 bis 1920 hat sich die Einwohnerzahl nahezu verzehnfacht! Wo viele Menschen leben, sterben auch viele. Die Innenstadtfriedhöfe waren überfüllt.

Also kaufte der evangelische Stadtsynodalverband mehrere Grundstücke unmittelbar vor den Toren Berlins. Dazu baute man eine eigene Friedhofsbahn, von den Berlinern "Leichenlinie" genannt.

100 Jahre Friedhof sind auch 100 Jahre Berliner Geschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg richteten Briten und Italiener auf dem Gelände Ehrenstätten für ihre gegen Deutschland gefallenen Soldaten ein. Den Nazi-Plänen zur Errichtung der Welthauptstadt Germania mussten zahlreiche innerstädtische Friedhöfe weichen und rund 30.000 Verstorbene nach Stahnsdorf umgebettet werden.

Durch die Teilung Deutschlands befand sich der Friedhof auf DDR-Gebiet. Seit 1953 eingeschränkt und seit 1961 gar nicht mehr durften West-Berliner die Gräber ihrer Verstorbenen sehen.

Doch seit der Wiedervereinigung vor 20 Jahren erfreut sich dieser schöne Flecken Erde wieder ungeteilter Beliebtheit. Der Zeichner der Hinterhöfe, Heinrich Zille, liegt hier; der Maler Lovis Corinth, Elisabeth von Ardenne (Vorbild für Fontanes "Effi Briest"), Verleger Gustav Langenscheidt, Werner von Siemens, Komponist Engelbert Humperdinck oder Filmregisseur Friedrich Wilhelm Murnau. Sogar der aus Wien stammende, windige Wahrsager Hanussen hat hier seine Ruhe gefunden.

Queen Elizabeth II. hat den Friedhof besucht. Und Roman Polanski ließ auf einem Teil des Geländes eine Filmkulisse für den Streifen "Ghost" (wie passend!) bauen. Beides hat keine Spuren hinterlassen. Dafür aber die Grabkultur der vergangenen 100 Jahre: Neoklassizismus, Neorenaissance, Neoromanik, Jugendstil, Expressionismus - so kann man ganz nebenbei einen Rundgang durch die europäische Stilgeschichte absolvieren.

Alle Beiträge dieser Rubrik unter:

www.wienerzeitung.at/

kauffmannsladen

kauffmannsladen@wienerzeitung.at