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Osteuropa schrumpft und altert

Von Gerhard Lechner

Wirtschaft

Trotz einer boomenden Wirtschaft stehen die exkommunistischen Länder langfristig vor erheblichen Problemen. Um das Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, braucht man mehr Fachkräfte - und die sind oft ausgewandert.


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Jaroslaw/Berlin/Wien. Es gibt belebtere Orte als Jaroslaw. Das 40.000-Einwohner-Städtchen liegt im Südosten Polens nahe der ukrainischen Grenze. Zur Glanzzeit der Rzeczpospolita, der polnisch-litauischen Adelsrepublik im 16. Jahrhundert, war es ein wichtiger Handelsort, ein Knotenpunkt zwischen Ost und West. Türken und Perser, Armenier und Italiener, Spanier, Engländer und Deutsche kamen auf den Jahrmärkten der Stadt zusammen. Die Bürgerhäuser mit den Arkadengängen, der ausgedehnte alte Marktplatz der auf grünen Hügeln erbauten Stadt und die zahlreichen Kirchen zeugen von der einstigen Bedeutung Jaroslaws.

Bis auf manche Bauwerke wie die prunkvolle Kirche des Dominikanerklosters, die auch als Dom einer Hauptstadt durchgehen könnte, erinnert heute allerdings nicht mehr viel an die einstige Bedeutung der galizischen Stadt. "Heute ist das hier das Ende der Welt", sagte der Abt des Klosters der "Wiener Zeitung". Die Straßen sind selten voll. Anders als in den großen Städten Polens wie Warschau, Danzig, Breslau oder Krakau kann man nicht gerade davon sprechen, dass in Jaroslaw das Leben pulsiert. Das Städtchen wirkt verschlafen. Zwar kam in den letzten Jahren der Wirtschaftsboom, der Polen erfasst hat, langsam auch im abgelegenen Grenzgebiet an. So verbindet seit kurzem eine Autobahn Jaroslaw mit Krakau, der Bahnhof wurde renoviert und die Eisenbahnverbindungen haben sich merklich verbessert. Das ändert allerdings derzeit noch nicht allzu viel am Grundsatzproblem der Region: dass zu viele Junge wegziehen. In die großen Städte, und manchmal auch ins Ausland.

Das Phänomen betrifft nicht nur ärmere Regionen an der ukrainischen Grenze. Es ist in Ostmitteleuropa weit verbreitet. "Manche Länder in Ost- und Südosteuropa haben in den letzten zehn bis 20 Jahren bis zu zehn Prozent der Bevölkerung verloren", umreißt Peter Havlik vom Wiener Institut für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) die Situation. "Vor allem in Rumänien, Bulgarien und den baltischen Staaten ist die Lage schlimm", sagt der Wirtschaftsforscher der "Wiener Zeitung".

Mit der Wende kam die Wende

Kein Wunder: Rumänien und Bulgarien hinken wirtschaftlich immer noch hinterher. Die Löhne sind niedrig, wenn es auch in Rumänien in den letzten zwei Jahren relativ große Lohnsteigerungen gab. Die reichen aber nicht aus, den Reiz zur Auswanderung in den beiden EU-Mitgliedsländern einzubremsen. "Und das Baltikum erlebte Anfang der 1990er Jahre eine schwere Wirtschaftskrise. Auch die Wirtschafts- und Finanzkrise des Jahres 2008 wirkte sich dort besonders verheerend aus", erläutert Havlik.

Doch die Auswanderung der jungen, qualifizierten Fachkräfte ist nur eine Dimension des Problems. Ein weiteres sind die niedrigen Geburtenraten, die die ostmitteleuropäischen Staaten aufweisen. Während in Westeuropa die Geburtenrate seit den 1970er Jahren merklich gesunken ist, kam es im Osten mit dem Zusammenbruch des Kommunismus zur Wende bei den Geburtenziffern: Die wirtschaftliche Rezession nach dem Ende des Kommunismus führte zu Beginn der 1990er Jahre dazu, dass die osteuropäischen Länder ihre bis zu diesem Zeitpunkt recht familienfreundliche Politik nicht länger aufrechterhalten konnten. Die Angebote an staatlicher Kinderbetreuung wurden zurückgefahren, die Transferzahlungen an Familien erheblich gekürzt. Eine Familie zu gründen, Kinder zu haben, war nun mit höheren Kosten verbunden - und mit höherem Risiko, denn die Jobsicherheit, die der planwirtschaftliche Sozialismus bei all seinen Fehlern bot, war weg. Viele schoben daraufhin ihre Pläne, eine Familie zu gründen, auf.

Viele zogen auch weg. "Die Auswanderung nach dem Ende des Kommunismus war an sich nichts Negatives", sagt Reiner Klingholz, der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". "Vor allem Polen hatte nach der Wende eine relativ junge Bevölkerung, eine Überzahl an jungen Leuten, die man nicht in den Arbeitsmarkt integrieren konnte. Die Auswanderung hat dieses Problem abgemildert", analysiert Klingholz. "Jetzt steht man in Osteuropa allerdings vor der Situation, dass die qualifizierten Leute, die ausgewandert sind, fehlen - und dass parallel die Geburtenraten dramatisch eingebrochen sind", resümiert der deutsche Forscher. "Die Jahrgänge, die jetzt ins Erwerbsleben eintreten - also die 20- bis 25-Jährigen -, sind relativ dünn besetzt."

Die Abnahme der Bevölkerung könnte mittelfristig den Aufschwung in den ostmitteleuropäischen Ländern massiv bremsen. Im Moment boomt die Wirtschaft: In Tschechien herrscht nahezu Vollbeschäftigung, auch in den anderen Visegrad-Staaten werden gut ausgebildete Fachkräfte händeringend gesucht. "In der Autoindustrie ist etwa die Nachfrage nach qualifizierten neuen Leuten enorm groß", weiß Havlik. "Aber die gibt es nicht - obwohl sich die Löhne in letzter Zeit erhöht haben. Die Produktion stößt so an Grenzen. Die Qualifizierten wandern immer noch lieber ab, als für niedrigere Löhne zu arbeiten", sagt der WIIW-Experte. Die niedrigen Löhne bilden nun aber den Anreiz für die Konzerne, in den Reformländern zu investieren. Sind die Löhne zu niedrig, wandern die Fachkräfte aus, steigen sie, ziehen die Investoren ab - ein Dilemma für die Länder Mittelosteuropas.

Es läge nahe, das Problem durch Zuwanderung zu lösen. Erstens ist jedoch fraglich, ob die großteils muslimischen Zuwanderer, die Europa derzeit erreichen, sich in Osteuropa überhaupt ansiedeln wollen. Die Migrationsbewegungen des Jahres 2015 haben gezeigt, dass vor allem Deutschland und Schweden als Zielländer attraktiv sind. Und zweitens gibt es in den exkommunistischen Ländern erhebliche Vorbehalte gegen eine Zuwanderung von Muslimen. Die zahlreichen Terroranschläge, die Westeuropa erschütterten, haben dabei ebenso wenig werbend gewirkt wie die Identitätsdebatten um Kopftuchverbote, Schweinefleischverzicht oder Ähnliches.

Droht japanisches Schicksal?

Wenn schon Migration, scheint man sich in den Visegrad-Staaten zu denken, dann aus dem benachbarten Osten: So hat etwa Polen in den letzten Jahren eine wahre ukrainische Migrationswelle erfasst. Neben den zahlreichen Arbeitern werden dabei auch gezielt Fachkräfte in der Ukraine für den polnischen Arbeitsmarkt angeworben. Daneben sucht die konservative polnische Regierung mithilfe der Erhöhung der Kinderbeihilfe die Geburtenrate zu erhöhen.

Ob dieses Rezept in Ostmitteleuropa langfristig reichen wird, ist fraglich. Bei einem völligen Verzicht auf Migration droht den Staaten das Schicksal Japans: Das Land, in den 1980er Jahren noch High-Tech-Weltmarktführer, hat diesen Status inzwischen verloren. "Japan altert und schrumpft dramatisch", sagt Klingholz. "Innovativ ist man nur noch im Roboterbau, den man in der Autoindustrie deshalb forciert hat, um auf Migranten verzichten zu können. Mittlerweile hat man sogar Pflegeroboter entwickelt."