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Othmar Hill

Von Piotr Dobrowolski

Reflexionen

Der Wirtschafts- und Arbeitspsychologe Othmar Hill kritisiert das Verhalten mancher Manager, sucht nach den individuellen Chancen in der derzeitigen Wirtschaftskrise und plädiert für ein Wirtschaftsleben auf humanistischer Grundlage.


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Wiener Zeitung: Herr Hill, Manager gelten für viele Menschen als Hauptverantwortliche der gegenwärtigen Wirtschaftskrise. Auch Sie haben in diesem Zusammenhang das Wort "Räuber" in den Mund genommen. Othmar Hill: Es geht nicht darum, Manager pauschal anzugreifen. Die Räuber-Aussage gilt für die extremen Auswüchse: vollkommen überhöhte Gehälter, Boni, Prämien. Die könnte man, vor allem wenn überhaupt kein nachhaltiger Unternehmenserfolg vorhanden ist, schon als Raubrittertum bezeichnen. Ich sage das nicht aus Aggression. Als Psychologe sehe ich auf der Seite der Manager ja unglaublich viel Verzweiflung. Und ich frage mich: Wie schlecht muss es jemandem gehen, damit er so gierig wird? Da muss hinter der Gier ein unglaublicher Bedarf nach etwas anderem stehen, das unerfüllt geblieben ist. Ich sehe diese Raffgier daher als einen Defekt, als eine Krankheit, noch dazu eine, die von den meisten betroffenen Managern völlig unreflektiert bleibt.

Dass gerade Leute mit solchen Defekten an die Spitze kommen konnten, zeigt doch, dass die üblichen Personalauswahlverfahren versagt haben.

Im Finanzbereich hat man es wahrscheinlich wirklich nicht geschafft, die richtigen Leute zu finden. Was auch kein Wunder ist: Wir haben in Deutschland zum Beispiel über Jahre beobachtet, dass Headhunter in der Bankenszene immer wieder nur die gleichen Personen weitervermittelt haben. Auch damit haben sie die Gehälter immer weiter in die Höhe getrieben. Wenn man immer nur im gleichen Biotop nach Leuten sucht, dann wird das eine unglaublich inzestuöse Sache.

Wobei man schon sagen muss: Die Manager, die man ausgesucht hat, haben das an sie gestellte Anforderungsprofil ja erfüllt: Sie haben versucht, mit Minimalaufwand in minimaler Zeit einen maximalen Gewinn herauszuholen. Aber es war ein rein selbstbezogener, rein eigentümerbezogener, und damit letztlich destruktiver Gewinn.

Und keiner hat sie aufgehalten.

Je inzestuöser der Zirkel, desto abgehobener agieren die Leute. Sie kriegen ja am Ende kaum Rückmeldung auf ihre Entscheidungen. Da ist niemand, der Fragen stellen oder ihnen sagen würde: Wie bitte? Was haben Sie da gesagt? Wiederholen Sie das noch einmal. Nein, alle tun freundlich, auch wenn sie schwere Bedenken haben.

Das wird in den meisten Firmen vermutlich auch in Zukunft so bleiben.

Ja, solange die Rahmenbedingungen gleich bleiben. Deshalb ist es so hoch an der Zeit, dass wir in der Wirtschaft auch noch andere als materielle Werte einführen. Die einzige Alternative, die ich sehe, ist der Humanismus, ist das Aufgeben dieser hemmungslosen vorwärtsgerichteten Raserei. Man müsste sagen: He Leute, was ist los mit euch? Stoppt einmal! Am Ende rollen wir ja alle ins Nichts. Selbst die Gläubigsten zerfallen zu Staub. Es ist eine Illusion zu glauben, dass wir durch Festkrallen am Materiellen etwas daran ändern können. So gesehen ist der materialistische Weltentwurf nicht nur naiv, sondern auch dubios. Wir müssen übrigens auch die Demokratie in Frage stellen, denn sie basiert ebenso wie der wirtschaftliche Wettbewerb auf einer Repression, indem nämlich die Mehrheit die Minderheit unterdrückt.

Und was wäre Ihre Alternative zur Demokratie?

Konsensualität. Der Europa-Entwurf ist zum Beispiel konsensual angelegt. Wirtschaftlich wie politisch sollte die Maxime gelten: Mit dem geringsten Aufwand den größtmöglichen Gemeinnutzen schaffen. Das kann man aber nur, wenn man unverkrampft ist, dazu braucht man ein gewisses Maß an existenzieller Entspanntheit. Und eine gesellschaftliche Grundhaltung, die akzeptierend und einfühlsam ist. Das erreichen wir, indem wir uns mit unangenehmen Gegebenheiten auseinandersetzen, sie annehmen und innerlich integrieren. Im Coaching zum Beispiel geschieht dies im Umgang mit unangenehmen Gefühlen.

Bleibt die Frage: Wer definiert, was Gemeinnutzen ist?

Ich denke, das wird von der Gemeinschaft definiert. Ich habe vor kurzem mit einem Kybernetiker gearbeitet, der keine Job Descriptions für Einzelne mehr macht, sondern kollektive Leistungen definiert, die das gesamte Team erbringen soll - und er macht das unter Einbeziehung dieses Teams, dieses Kollektivs.

Das ist keineswegs kommunistisch, sondern einfach ein entspannter Umgang mit Herausforderungen. Ich denke, wenn wir die eigene Existenzangst bekämpfen, können wir zu so einer entspannten Haltung kommen. Die ja auch dringend nötig wäre. Wenn ich mir so die Manager oder Firmenchefs anschaue - die meisten von ihnen fahren ja vor lauter Krampf immer voll am Limit, bringen sich um, verschleißen eigene und fremde Ressourcen, gefährden sich selbst. Das ist eine Selbstverletzung bis hin zu suizidalen Risiken. Ist das wirklich unser Erfolgsmodell? Das kann es ja nicht sein!

Was machen Sie mit so jemandem, wenn er zu einem Coaching kommt?

Keine Ratschläge geben, sondern mit ihm mitdenken, mitreflektieren, Echo sein. Der Mensch weiß in Wirklichkeit eh alles, was er ändern muss. Aber wenn man ihm konkrete Anleitungen zur Veränderung vorgibt, erreicht man das Gegenteil. Was ich Managern und Firmeninhabern oft empfehle, ist, neben dem Einzelcoaching eine strategische Planung für ihre Firma zu machen, damit sie sich klar darüber werden, wohin sie mit ihrem Unternehmen, aber auch persönlich kommen wollen. Wer das tut, für den eröffnen sich oft große Freiräume.

Das ist aber ein Programm für Firmenchefs. Auf der unteren und mittleren Ebene regiert statt Psychologie in der Regel Ökonomie.

Ja, die Frage ist aber, wie lange noch. Schauen Sie sich die aktuelle Krise an: Die klassischen Managementberater, die Finanzakrobaten geben sich momentan eher einsilbig bis schmähstad. Und wissen Sie warum? Weil sie, ich will nicht sagen auf der Täter-, aber auf jeden Fall auf der Verursacherseite stehen. Sie haben die Leute mit rationellen Argumenten ins Luftschloss der absoluten Gewinnmaximierung getrieben. Was die Leute aber wirklich wollen, sind Gefühle. Aktiendepots machen mitunter weniger glücklich als ein Schmalzbrot auf der Berghütte. Wir brauchen in dieser ganzen Krisendiskussion viel mehr Lockerheit, damit wir uns jetzt die richtigen Ziele setzen. Wer sagt, dass alles ins Unendliche wachsen muss?

Wenn einer akut vom Jobverlust bedroht ist, sagen Sie dem auch: Freu dich über dein Schmalzbrot, entspann dich?

Ja, genau. Geht eine Tür zu, geht eine andere auf. Bei mir hält sich daher auch das Mitleid in Grenzen, wenn ein 52-Jähriger völlig fertig zu mir kommt, weil er gekündigt worden ist. Oft fehlt da das Selbstverständnis des eigenen Wertes, des beruflichen Potenzials. Karriere-Coaches helfen dabei, dieses zunächst einmal zu inventarisieren, um Arbeitsmarktchancen überhaupt orten zu können. Meist gibt es nur noch den Weg in die Selbständigkeit. Erst dann kann losgelegt werden.

Es gibt aber nun einmal Leute, die das Bedürfnis nach Jobsicherheit haben. Nicht jeder will mit 50 eine Firma gründen.

Das ist eh nicht leicht. Aber es wird in Zukunft nun einmal weniger Jobs geben als heute. Es wird eine ganz andere Arbeitswelt geben. Die Vollbeschäftigung können Sie sowieso vergessen. Es wird, so unangenehm das ist, viel mehr prekäre Arbeitsverhältnisse geben, viele, viele terminisierte Jobs, jede Menge Projektnomaden, neue Selbständige, Leihpersonal, private Dienstleistende bis hin zu Privatsekretariaten etc. Das Home-Office wird zur Regel. Änderungen, wohin man sieht - und Ende nie.

Und das soll toll sein? Home-Office zum Beispiel bedeutet kaum noch Trennung zwischen Job und Privatsphäre.

Ja, aber umgekehrt ist es auch eine Riesenchance: Die Männer können sich jetzt an der Hausarbeit beteiligen, mehr für die Kinder dasein. Die Frauen können nach der Karenzzeit oder noch während der Karenz von einem Home-Office aus einen hochwertigen Job machen, den sie sonst nicht machen könnten. Sie können zum Beispiel in Graz wohnen und in Neuseeland arbeiten. Aber natürlich gibt es auch Nachteile. In Japan kennen wir das Man-Back-Home-Syndrom: Die Männer sind arbeitslos und die Frauen lassen sich scheiden. Sie halten es nicht aus, wenn der Mann den ganzen Tag zu Hause ist und grantelt. Kochen kann er nicht, bügeln auch nicht und Hausarbeit will er nicht machen. Dennoch glaube ich, dass die Nomadisierung und Globalisierung uns einen unglaublichen Arbeitsmarktschub geben wird. Das Einzige, das ich negativ sehe, ist die Wertereduktion. Man opfert alte Werte und es kommt nichts nach.

Welche Werte werden geopfert?

Politische, moralische, ethische, religiöse, familiäre Werte. Heute hat ja kaum noch eine politische Partei eine klar profilierte Ideologie. Nur die Rechtsradikalen haben eine, und die ist ja indiskutabel. Das Politikerleben ist voll von Populismus-Kalkül und Medien-Devotion. Aber auch familiäre Werte gehen verloren. Die Zuwendungszeit der Eltern beträgt heute elf Minuten pro Kind täglich. Früher war man fünf Stunden zusammen. Heute gibt´s am Abend Befehlsausgabe für den nächsten Tag und das war es dann! Die Kinder werden von Sylvester Stallone und Madonna erzogen. Und die Eltern bekommen das nicht einmal mit, weil sie nie im Kinderzimmer sind. Das führt unweigerlich zu Sozialisationsdefiziten.

Der von Ihnen beklagte Werteverfall ist möglicherweise aber eine direkte Folge der Globalisierung.

Ich glaube, dass wir dem entgegenwirken können, wenn wir im Sinne der Nomaden ein multikulturelles Lebensgefühl entwickeln. Um in unwirtlichen Gegenden zu überleben, braucht man leichte mobile Hardware - früher waren das Zelt und Kamel, heute Laptop und Flugticket - sowie soziale Verbindlichkeit bzw. Handschlagqualität. Und wenn ich diese Nomadenwerte auf unsere Wochenpendler-Manager umlege, dann werden Empathie, Einfühlungsvermögen, Respekt, Wertschätzung zum Nonplusultra: Dann können damit alle Distanzen überwunden werden und man besteht überall.

Allerdings redet heute schon jeder Manager von Respekt und Wertschätzung. In der Realität sind das aber oft nur Floskeln.

Ja, weil alles auf Kampf ausgerichtet ist. Nicht nur die Wirtschaft, auch die Politik. Aber die aktuelle Krise wird sich nicht mit noch mehr Kampf, noch mehr Geld kitten lassen. Der Sprung im Wirtschaftsfirmament ist schon zu groß. Der kommunistische Materialismus ist zwar tot, der kapitalistische aber auch schwer bedient. Es wird doch kaum noch jemand in irgendwelche Finanzgeschichten investieren, die sich als Lügenmärchen entpuppen könnten! Können Sie sich vorstellen, dass die Leute in zwei Jahren wieder anfangen, mit undurchsichtigen Finanzinstrumenten zu spekulieren? Ich nicht. Das Vertrauen ist weg. In Zürich kriegen Sie heute kein freies Schließfach in einer Bank mehr, weil so viele Leute ihr Gold dort horten.

Nach der Finanzkrise kommt also die Rückbesinnung auf die Realwirtschaft?

Ja, aber die Frage ist: Wo soll man investieren? In eine zweite Fabrik, wenn schon die erste an Überproduktion leidet? Ich denke, dass nach der Informationsgesellschaft mit all ihrer Überforderung nun die Zeit der psychosozialen Dienste kommt. Es wird in Menschen investiert werden. Dazu brauchen wir aber neue Bildungs- und Berufsberatungskonzepte.

Die da wären?

Für Österreich flächendeckende Berufsberatung zwischen dem 15. und 16. Lebensjahr. Auf keinen Fall in der Schule, sondern extra organisiert. Das Schulwesen selbst gehört ebenfalls umgebaut. Heute haben wir ein System, wo die Kinder schon mit 13, 14 Jahren entscheiden müssen, was sie werden wollen. Das können sie aber nicht, weil in diesem Alter die Interessen noch nicht entsprechend ausgeprägt sind. Das kommt erst zwischen fünfzehn und sechzehn. Dann sollte Berufsberatung ansetzen. Was das Fehlen einer solchen Beratung kostet, sieht man an den Drop-Out-Raten der Massenuniversitäten. Die gibt es ja nur deshalb, weil fast alle das Gleiche studieren: Wirtschaft, Jus, Medizin.

Ihr System befürwortet also auch die Gesamtschule?

Ja, das wäre eine gute Idee, und zwar bis fünfzehn, mit einem Abschluss, einer Art kleiner Matura, und dann folgt entweder Berufsausbildung oder weiteres Studium. Aber wir werden auch andere Sozialisierungsmaßnahmen, wie zum Beispiel Camps, brauchen. Denn die Sozialisierung der Kinder wird ja nicht mehr ausreichend von den Eltern gewährleistet.

Sozialisierungscamp: das klingt nach George Orwell und DDR.

Nein, nein, es geht einfach darum, dass die Kinder und Jugendlichen mehr mit unterschiedlichen Menschen zu tun haben. Jahrelang nur in die zwei gleichen Elterngesichter zu schauen, ist ja nicht optimal. Die Kleinstfamilie scheint ausgedient zu haben. Übrigens kann und muss die Sozialisierungsarbeit auch im Rahmen der Ganztagsschule von sogenannten Psychagogen geleistet werden. Man könnte in diesen Camps oder in der Ganztagsschule auch ältere, gut sozialisierte Leute beschäftigen, die dort die Jugendlichen erziehen.

Generell sollten wir sowieso viel mehr auf die Erfahrung älterer Leute zurückgreifen. Wir haben in Österreich zwei Millionen Pensionisten, die im Schnitt über 35 Jahre Berufserfahrung verfügen. Das macht in Summe 70 Millionen Jahre Berufserfahrung, auf die wir verzichten. Das ist doch verrückt! Selbst wenn wir nur einen Bruchteil dieser Erfahrung nutzen könnten, wäre das fantastisch.

Aber das könnte die Probleme der Bildungspolitik auch nicht lösen.

Deshalb brauchen wir für jede Region, für jedes Bundesland einen Masterplan, in dem festgeschrieben wird: Was sind die Herausforderungen in den nächsten zehn Jahren? Wie sollen sie bewältigt werden? Welche Fachkräfte benötigen wir dazu? Nach solchen Masterplänen soll dann gezielt ausgebildet werden. Außerdem müssen sich die Regionen verstärkt bemühen, nicht nur attraktiv für Investoren zu sein, sondern dieses Image auch aktiv zu transportieren.

Ihr zehnjähriger Masterplan weckt ein wenig die Erinnerung an die Fünfjahrespläne der alten kommunistischen Planwirtschaft.

Mir ist jedenfalls ein klarer Plan auf humanistischer - nicht kommunistischer! - Basis lieber als planloses Dahinwursteln.

Zur Person

Othmar Hill, geboren 1948 in Wien, ist promovierter Psychologe mit den Schwerpunkten Wirtschafts-, Arbeits- und Testpsychologie. 1975 gründete er das Personalberatungsunternehmen Hill International, das heute zu den renommiertesten in der Branche gehört. Hill International unterhält 30 Büros in 20 europäischen Ländern.

Zu den zentralen Aufgaben des Unternehmens gehören die betriebspsychologische Beratung und Managementbegleitung im sogenannten "Human Resources"-Bereich. Hill begleitet multinationale Konzerne genauso wie kleine und mittelständische Unternehmen bei ihrer strategischen Ausrichtung auf die Länder Zentral-, Ost- und Südosteuropas. Als Spezialist für "Interkulturelles Management" steht er der österreichischen Wirtschaftskammer in Fragen des Internationalen Know-how-Transfers zur Seite. Neben seiner Tätigkeit als Berater entwickelte Hill bis heute zahlreiche strukturierte Potenzialanalysen, wie zum Beispiel HILL_BEST FIT und den "Berufskompass". Er ist der Erfinder des "humanistischen Managements", "Management on Tour" sowie "HILL Window" für Unternehmenskulturen.

Othmar Hill ist Autor der Bücher "Das Ende der Massenmenschhaltung: Humanistisches Management in Zeiten rasender Gesellschaften" und "Das Mittelmäßigkeits-Kartell: Die Verschwörung der Kleinkarierten". Außerdem veröffentlichte er zahlreiche Beiträge zu den Themen Karriereplanung, Reformstaaten, neue Arbeitswelten, Wirtschaftspsychologie und strategische Planung.

Piotr Dobrowolski arbeitet als Journalist und unterrichtet als Lektor an den Universitäten Wien und Graz.