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"Otto Bauer war keine Kampfnatur"

Von Christa Hager

Februar 1934
Zur Person: Franz Weiss, geboren 1920 in Garsten (angrenzend an Steyr), 1974 bis 1984 Bürgermeister von Steyr. Das Foto im Hintergrund zeigt seinen Vater im Alter von 20 Jahren.
© Foto: Wiener Zeitung, Christa Hager

Der Steyrer Franz Weiss hat während der Februar-Kämpfe ein tragisches Schicksal erlebt: Sein Vater wurde von hinten erschossen.


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"Wiener Zeitung": Sie sind im Kraxental in Garsten nahe Steyr aufgewachsen. Wie waren in den 1930er Jahren die Lebensbedingungen?

Franz Weiss: Wir haben in einem sogenannten Reithoffer-Haus gewohnt. Diese wurden 1916 während der Hochkonjunktur der Gummi- und Reifenerzeugung von den Reithoffer-Werken für die Arbeiter gebaut. Es gab darin rund 140 Wohnungen. Die Miete der Wohnung war an sich für einen Arbeiter leistbar, es gab aber auch sehr viele Tuberkulose-Kranke, die Krankheit gehörte damals fast zum Milieu dazu. Von den acht Parteien in unserem Haus waren zwei Väter lungenkrank.

Meine Eltern, mein älterer Bruder, meine Schwester und ich haben in einer Drei-Zimmer-Wohnung gewohnt. Die Lebensbedingungen waren damals im Verhältnis vergleichsweise besser als anderswo.

Viele Arbeiter lebten damals mit ihren Familien auch in Baracken.

Ja, vor allem auf der Ennsleite. Dort wurden während des  Krieges Barracken als Notunterkünfte für die Arbeiter gebaut, danach hat diese eine Wohnungsgesellschaft der Steyr-Werke verwaltet. Die hat sie dann als Mietwohnungen weiter gegeben. Die Barracken waren kalt und schwer zu heizen.

Im Unterschied dazu haben wir in einem guten Arbeitermilieu gewohnt. Es gab eine Wohnküche, mit ungefähr 14 Quadratmetern, ein Schlafzimmer, das in etwa auch so groß war, und ein Kabinett von rund neun Quadratmetern. Hier haben wir Kinder geschlafen - auf Strohsäcken. Es gab dort noch einen Platz für ein kleines Tischerl, damit wir dort lernen konnten. Unsere Kleidung hatte die Mutter im Schlafzimmerschrank aufbewahrt, den Rest haben wir auf die Türe gehängt. So viel haben wir eh nicht gehabt damals. Das waren stabile, gesunde Ziegelhäuser, aber natürlich klein, eine Bassena gab es in jedem Stock mit einer Wasserleitung, das Vorhaus war verfließt, ein Klo für beide Parteien im Halbstock. Das war für die damalige Zeit ein riesen Fortschritt.

Die Februarkämpfe sind auch in Steyr nicht einfach so ausgebrochen. Welche Erinnerungen haben Sie an die Zeit davor?

Schon vorher musste man Angst haben, wenn man das Falsche sagte. Mein Vater ist bei Versammlungen einige Male direkt vom Podium weg verhaftet worden und am Fisolenberg [heute Berggasse] ins Gefängnis gekommen. Am nächsten Tag haben sie ihn dann wieder ausgelassen. Das war üblich, bei jeder Versammlung war ein Spion der Staatspolizei dabei.  Nur damit Sie wissen: ich hab schon als Kind mitgekriegt, was  außerhalb unseres Lebensmilieus passiert ist und wie sich manches abgespielt hat. Wir sind so aufgewachsen, dass wir zwischen rot und schwarz unterschieden haben. Die Roten waren die minder bemittelten, die am liebsten keine Arbeit  kriegen sollten, und die anderen, das waren die Begüterten, die Reichen. Da haben wir oft Raufereien gehabt. Wir haben uns ausgekannt, weil daheim darüber geredet wurde. So hat mein Vater immer Zeitschriften mit nach Hause gebracht und mit meiner Mutter über die Vorkommnisse in der Arbeit oder im politischen Leben gesprochen.

Im Februar 1934 waren Sie 13 Jahre alt. Welche Erinnerungen haben Sie daran?

Ich war der Letzte, der meinen Vater gesehen hat. Ich bin mit ihm von Kraxental nach Steyr gegangen. Nachdem die Reithoffer-Werke gesperrt worden waren, hat er bei der Gebietskrankenkasse in Linz gearbeitet. Er wurde dort als Hausmeister angestellt, hat drüben ein kleines Zimmer gehabt und ist jede Wochen nach Linz gefahren. Als wir am Abend am Weg zum Bahnhof waren, hat er gesagt:  "Franzl, bleibst morgen daheim, passt's auf die Mutter auf und geht nicht fort. Weil es passiert was." "Vater, was soll denn passieren?", hab ich ihn gefragt. "Das kann ich dir nicht sagen, das wirst du eh morgen sehen." Er hat schon gewusst, dass es morgen losgeht, und die Polizei wird's wahrscheinlich auch schon gewusst haben, durch die Telefonate, die sie abgehört haben. Darum gab es auch gleich in der Früh eine Razzia [im Hotel Schiff in Linz].

Am Dienstag ist er dann auf der Straße ohne Waffe in der Hand von hinten erschossen worden. Was er dort genau getan hat, weiß ich nicht. Die Gebietskrankenkasse war ein Punkt der Sozialdemokraten, den sie verteidigt haben. Er muss zurück zum Eingang gelaufen sein. Er hat einen Bauchschuss von hinten gekriegt. Das weiß ich, weil ich das Hemd später noch getragen habe, nachdem es die Mutter für die Arbeit gestopft hat. Außerdem hat die Heimwehr die Rettung beschossen und von ihm vertreiben. So ist er zwei Stunden auf der Straße gelegen und jämmerlich verblutet.

Er ist aber nicht gleich gestorben. Nach zwei Stunden wurde er dann doch abtransportiert, aber der Bauschuss hat ihm die Gedärme zerfetzt. Am nächsten Tag, ist er dann an Blutverlust verstorben. Sein Sekretär von der Gewerkschaft hat sofort die Mutter verständigt, wir haben von seinem Tod noch am Mittwoch erfahren. Bereits am Freitag war die Veraschung – wir durften nur zu sechst mitgehen und für meinen Bruder wurde ein Freigang aus dem Gefängnis in Garsten abgelehnt. Rund um den Friedhof stand die Heimwehr und ließ niemand rein. Auch Friedhofsbesucher nicht. Der ganze Friedhof war abgesperrt.

Und in Steyr?

Als es am Dienstag losging, sagte die Mutter: "Hol's Dirndl von der Schule ab". Am Heimweg über ein Feld und eine Böschung zu unsere Siedlung, da wurde in unsere Richtung  geschossen. Ich vermute, dass es ein Schutzbundposten gewesen sein, die wollten uns verjagen, dass wir heim gehen. Es waren keine gezielten Schüsse.
Tags darauf gab es Hausdurchsuchungen, da wurde alles durcheinandergebracht. Zum Glück hatte ich einen Tag vorher das Gewehr weggebracht. Vielleicht hat es die Mutter von jemandem erfahren, dass die Polizei kommt. Ich hab Gewehr unter meinen Jägerfleck versteckt – der einzige Mantel den wir kannten – und hab am Abend das Gewehr eine G'stetten runtergeschmissen. Mir hat es nur Leid getan um das Gewehr, das war noch ganz neu. Ich war ja gerade in meiner Karl-May-Zeit (lacht).

Wie bewertete Ihr Vater das zögerliche Verhalten der Sozialdemokraten in Wien?

Mein Vater hat immer betont, dass er zwar selber die Otto-Bauer-Plakette habe, aber den Otto Bauer nicht sehr schätze. Weil er sehr zögerlich war. Bauer war ein Theoretiker, keine Kampfnatur. Die in Wien haben immer nur zugewartet, gehofft, dass sich das Militär raushalten wird. Das war ein großer Irrtum. Der Februar war ein Aufstand, der aus der Volksseele entstanden ist, aus dem Zorn der Leute.

Gab es nach der Niederlage des Schutzbundes Schikanen für Ihre Familie?

Nach dem Tod meines Vaters sanken wir von einem guten Arbeiterhaushalt in einen Armutshaushalt ab. Als mir meine Mutter einen Lehrplatz in den Steyr-Werken organisiert hatte,  war sie sehr stolz. Das war ein Glücksfall damals. Viele Jugendliche hatten damals keine Lehre und kamen nur zum Putzen in die Fabriken. Eine Lehre war wichtig, um meine Mutter zu unterstützen. Im September wurden wir zum Personalchef vorgeladen. Der war Hauptmann bei der Heimwehr, aber das haben wir nicht gewusst. Als er bei meiner Mutter auf einmal ihre Trauerspange, die man damals zum Aufstecken verwendete, ansprach, fragte er: "Haben sie einen Trauerfall?", fragte er? "Ja mein Mann", sagte meine Mutter.  "Ja was ist denn passiert?" "Im Februar bei den Kämpfen ist er gestorben." "Ah so, als treuer Kämpfer für die Heimat?" "Ja, er war beim Schutzbund". Da springt er auf und sagt: "Schauen sie, dass sie rauskommen, sie rotes Gesindel!" Und dann hat er uns rausgeschmissen. Die Mutter hat geweint, ich habe geweint, wir dachten, es ist vorbei.  Später hat uns dann ein evangelischer Priester geholfen, dass ich doch noch eine Lehrstelle bekam.

Einer der ersten Toten des Aufstands in Steyr war der Werkdirektor der Steyr-Werke Wilhelm Herbst. Wurde da damals viel drüber gesprochen? Gab es Genugtuung?

Ja. Mit seiner gehässigen Aussage über Kartoffeln statt Rosen hat er sich die Arbeiter zum Feind gemacht. Dabei waren die Rosen das einzig schöne, das die Frauen dort hatten. Außerdem hatten sie  auch noch kleine Gärten mit Gemüse.

Wie erklären Sie sich das lange Schweigen über die Februarkämpfe?

Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen SPÖ und ÖVP überein, dass man den Wiederaufbau beginnt. Es war vor allem Wunsch der ÖVP, über 1934 nicht mehr zu reden. Alte Gräben reißt man nicht mehr auf, meinten sie. Und es wurde so lange geschwiegen, bis fast alle Zeitzeugen gestorben sind. Heute sind wir nur mehr sehr wenige, manche sind schon sehr krank oder können sich nicht mehr erinnern, manche bettlägerig. So halbwegs gesunde Leute wie mich gibt es fast keine mehr. Und die Erinnerung wird ja auch schwächer, je länger das her ist.

Siehe dazu auch: "Hoffentlich drahn's eam des o": Die Februarkämpfe in der Kleinstadt Steyr und ihre Ursachen.