Zum Hauptinhalt springen

Ötzi starb anders als angenommen

Wissen

Der "Mann aus dem Eis" war zunächst mit Schnee bedeckt und lag im alpinen Sommer frei.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 1 Jahr in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Mehr als 30 Jahre, nachdem die Eismumie Ötzi im Südtiroler Hochgebirge gefunden wurde, muss ihre Geschichte umgeschrieben werden.

Ursprünglich ging man davon aus, dass der 5.300 Jahre alte Körper gleich nach dem Tod im Herbst dauerhaft unter Eis begraben wurde. Nun berichtet ein Team von Archäologen und Gletscherforschern im Fachjournal "The Holocene", dass der Mann im Frühling oder Sommer gestorben und zunächst mit Schnee bedeckt gewesen sei, welcher saisonal abschmolz. Der Körper sei somit zeitweise freigelegt gewesen, was den Verfall der am stärksten exponierten Körperteile erkläre.

Am 19. September 1991 hatte ein deutsches Ehepaar auf 3.210 Metern Seehöhe in einer Rinne im Gebiet des Tisenjochs in den Ötztaler Alpen eine Leiche entdeckt, die sich als Sensationsfund entpuppte. Die Erhaltung der Eismumie war, wie es damals hieß, ganz speziellen Umständen zu verdanken.

Aufgrund der Fundsituation ging der österreichische Archäologe Konrad Spindler im Jahr 1994 davon aus, dass Ötzi im Herbst mit einer im Kampf beschädigten Ausrüstung auf den Pass geflohen und dann in der schneefreien Rinne, in der seine Überreste gefunden wurden, erfroren sei.

Diese sogenannte Katastrophentheorie legte Spindler in seinem Buch "Der Mann im Eis" dar. Demnach floh Ötzi, als Hirte interpretiert, im Spätsommer oder Herbst über die Berge aus dem Tal nach Süden. Ein Teil seiner Ausrüstung war bei einer heftigen Begegnung beschädigt worden und er hatte keine Zeit, sie zu reparieren. Ötzi starb in einer schneefreien Rinne in der Nähe des Passes. Sein Körper wurde gefriergetrocknet, wodurch er sich außergewöhnlich gut konservierte. Kurze Zeit später bedeckte ein Gletscher das Gebiet und vergrub Leichnam und Ausrüstung für mehr als fünf Jahrtausende wie in einer Zeitkapsel. Das Team aus Norwegen, der Schweiz und Österreich geht davon aus, dass diese ursprüngliche Erklärung nicht mehr dem Stand der Forschung entspricht. Es stützt sich auf Erkenntnisse, die es in den vergangenen Jahrzehnten bei Untersuchungen anderer gletscherarchäologischer Fundstellen gewonnen hat, und paläo-biologische Untersuchungen.

"Sein Leichnam ruhte wahrscheinlich im oder auf dem Schnee des Frühlings oder Frühsommers", heißt es in dem Fachartikel. Nach einiger Zeit seien Schnee und Eis geschmolzen und der Körper und seine Habseligkeiten in jene darunter liegende Rinne gerutscht, in der er heute gefunden wurde. Die Verlagerung und Beschädigung des Leichnams und seiner Ausrüstung könne entweder während einer einzigen starken Schmelze oder mehrerer kleinerer Schmelzvorgänge erfolgt sein. Körper und Ausrüstung seien ein- oder mehrmals in Wasser gelegen.

Der "Mann aus dem Eis" wurde also nicht, wie bisher angenommen, sofort und dauerhaft unter Eis begraben. "Auf dieser Höhe haben wir übers Jahr gesehen die meiste Zeit eine saisonale Schneedecke", sagt Andrea Fischer vom Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) zur "Wiener Zeitung". "Schneefreie Tage gibt es in dieser Höhe wenige, aber selbst wenn, ist es kalt und luftig genug, dass Ötzis Körper genug Wasser entzogen wurde, um ihn zu konservieren."

"Schmutzige Eisschicht"

Fischer zufolge wäre die Theorie, dass Ötzi sofort im Eis gelegen sei, nur dann realistisch, wenn der Schnee 30 Jahre durchgehend liegen geblieben wäre. "Schnee muss mehrere Jahrzehnte an der gleichen Stelle liegen, um sich auch durch das Eindringen von Schmelzwasser so zu verdichten, dass eine für Luft und Wasser undurchlässige Eismasse entsteht", sagt die Glaziologin.

Die neue These widerspricht auch einer angenommenen plötzlichen Abkühlung des Klimas um die Zeit von Ötzis Tod, die als Beleg für die Konservierung des "Eismanns" herangezogen wurde. Dafür gebe es keine Beweise, betonen die Forschenden.

Für rund 1.500 alpine Sommer nach seinem Tod lagen Ötzi und seine Ausrüstung also einige Tage im Jahr frei. Dies führte zum Verfall der am stärksten exponierten Körperteile und zu weiteren Schäden an der Ausrüstung. Gleichzeitig gelangte neueres Material in die Rinne, welches sich in einer "schmutzigen Eisschicht" am Boden ablagerte.

Die Schäden an Ötzis Ausrüstungsgegenständen würden jenen ähneln, die an anderen nacheiszeitlichen archäologischen Stätten gefunden wurden. Sie seien wahrscheinlich auf natürliche Prozesse an der Fundstelle zurückzuführen und nicht auf einen Konflikt oder Kampf, wie ursprünglich vermutet worden war.(est)