Zum Hauptinhalt springen

Ovale Räder und das Sex-Gen

Von Walter Hömberg

Reflexionen

Vom "Grubenhund" bis zu Relotius: Zur Geschichte von "Fake News" in Medien.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Manche Männer behaupten, den "Playboy" nur wegen der Interviews zu lesen. Diese Zielgruppe wird im aktuellen (Dezember-) Heft mit einer kräftigen Kollegenbeschimpfung bedient: Der 90-jährige italienische Filmkomponist Ennio Morricone charakterisiert darin den amerikanischen Filmer Quentin Tarantino als "absoluten Chaoten" und nennt ihn einen "Kretin". Diese abwertenden Urteile sind umso erstaunlicher, als beide Männer bei Tarantinos Film "The Hateful Eight" erfolgreich zusammengearbeitet haben - Morricone erhielt für die Filmmusik sogar den Oscar. Nach einem Dementi des Komponisten musste der Interviewer einräumen, dass er zentrale Teile des Gesprächs falsch wiedergegeben und den Text mit erfundenen Beleidigungen "aufgehottet" hatte.

"Lügenpresse"? Seit geraumer Zeit geistert dieses Schlagwort durch die öffentliche Debatte. Der Begriff hat eine lange Tradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Im Ersten Weltkrieg wurde er für die Auslandspresse verwendet - und später für ideologische und politische Gegner. Kommunisten wandten sich gegen die "Lügenpresse der Bourgeoisie", Nationalsozialisten gegen die "jüdisch-marxistische Lügenpresse". Heute wird der Begriff gern von rechtspopulistischen und rechtsextremen Kreisen verwendet. US-Präsident Trump wirft seinen journalistischen Kritikern nahezu täglich "Fake News" vor - auch, um von der Vielzahl der ihm nachgewiesenen eigenen Lügen abzulenken.

Solche pauschalen Anschuldigungen werden gespeist von einem generellen Konspirationsverdacht, der sich rationalen Argumenten weitgehend entzieht. Umso wichtiger ist es, sich mit realen Falschmeldungen und Medienfälschungen zu befassen, um Gefahrenzonen für die Qualität des Journalismus aufzuspüren. Dazu einige Beispiele aus Geschichte und Gegenwart.

Die Aktualitätsfalle

"Robbie holte Show aus dem Koma" - unter dieser Schlagzeile berichtete das Boulevardblatt "Österreich" am 4. Dezember 2010 über die ZDF-Sendung "Wetten, dass. . .?" vom Vorabend. "Tommy hatte für jeden etwas dabei. Vor allem spannend: Robbie Williams und Take That wieder vereint und das auf der Gottschalk-Couch. Eine Premiere: Robbie trat in der Show zweimal auf, einmal solo und dann mit Band."

In Wirklichkeit verlief die Sendung ganz anders. Kurz nach Beginn stürzte Wettkandidat Samuel Koch, ein 23-jähriger Student, beim Sprung über ein entgegenkommendes Auto, das sein Vater steuerte. Die Live-Sendung wurde zunächst unterbrochen, später endgültig abgebrochen. Die angekündigten Auftritte von Robbie Williams und weiteren prominenten Gästen blieben den geschockten Zuschauern erspart.

Der Verfasser des Artikels war in die Aktualitätsfalle getappt: Er hatte seinen Beitrag "kalt" geschrieben und bereits vor dem Ereignis in Druck gegeben. Aber nicht nur Boulevardzeitungen, sondern auch Qualitätsmedien sind gegen Falschmeldungen nicht immun: Ihr wunder Punkt heißt Originalität.

Ein Paradebeispiel bot das "SZ-Magazin". Aufsehen erregte diese Beilage der "Süddeutschen Zeitung" nicht nur durch stilistische Brillanz und gelungene Optik, sondern auch durch unkonventionelle Interviews mit Hollywoodgrößen wie Sharon Stone, Kim Basinger und Brad Pitt. Diese Interviews, geliefert von dem in Los Angeles lebenden Reporter Tom Kummer, offenbarten Erstaunliches aus dem Seelenleben der Stars. Sie waren "exklusiv" im doppelten Sinn: nämlich außergewöhnlich - und frei erfunden.

Nach dem Auffliegen der Fälschungen versuchte sich Kummer als Aufklärer und Medientheoretiker: Er charakterisierte seine Arbeitsweise als Montage aus verschiedenen Quellen und rückte sie in die Nähe der "Konzeptkunst". "Alles demontieren, alles dekons-truieren fand ich toll, besonders bei einem Mainstream-Medium wie dem Journalismus, das offensichtlich nach sehr klaren Vorstellungen funktionieren muss." Sein eigenes Berufsverständnis fasst er in dem Begriff "Borderline-Journalismus" zusammen.

Kummer ist nicht ohne Nachahmer geblieben. Vor wenigen Tagen erst musste das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" einräumen, jahrelang fehlerhafte Reportagen gedruckt zu haben. Der Redakteur Claas Relotius hatte immer wieder Geschichten manipuliert, angebliche Fakten erfunden und Gesprächspartner mit frisierten Zitaten präsentiert, ohne dass die riesige Dokumentationsabteilung des Blattes ihm auf die Schliche gekommen war. Der 33-Jährige, der auch in österreichischen Medien publiziert hat, war mehrfach mit renommierten Journalistenpreisen ausgezeichnet worden.

Ins Gerede gekommen ist jüngst auch der preisgekrönte österreichische Schriftsteller Robert Menasse. Dass er nicht nur als Literat, sondern auch als politischer Publizist "Fiktives als Faktisches" ausgebe, hat ihm die deutsche Zeitung "Die Welt" vorgeworfen: Menasse habe den deutschen CDU-Politiker Walter Hallstein (1958 erster Kommissionsvorsitzender der EWG) regelmäßig als Eidhelfer für seine eigene politische Agenda (Überwindung der Nationen) bemüht - allerdings mit falschen Zitaten wie "Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee". Ein Satz, den Hallstein "so zugespitzt" nie gesagt hat, wie Robert Menasse gegenüber der "Welt" nun bekannte und sogleich hinzufügte: "Was kümmert mich das ,Wörtliche‘, wenn es mir um den Sinn geht."

Waren die geschilderten Fälle Beispiele für Fehlleistungen von Journalisten oder Autoren, so sind die Medien bei einem anderen Typ von Falschmeldungen Opfer politischer Instrumentalisierung. Insbesondere autoritäre und totalitäre Herrscher haben sich dabei hervorgetan. Die Fälschungsmethoden der Faschisten, Stalinisten und Maoisten haben bis in unsere Tage hinein gelehrige Schüler gefunden.

Neu ist, dass zur Produktion von Feindbildern immer häufiger PR-Agenturen eingesetzt werden. Ein frühes Beispiel bot der westafrikanische Bundesstaat Nigeria. Dieser volkreichste Staat Afrikas erhielt 1960 die Unabhängigkeit. Nach einem blutigen Putsch rief der Militärgouverneur 1967 die Ostregion zum unabhängigen Staat Biafra aus. Biafra kämpfte freilich nicht nur mit Gewehren, sondern auch mit den Waffen einer gezielten Öffentlichkeitsar-beit. Die Genfer PR-Agentur Markpress versorgte die europäischen Medien mit einschlägigem Propagandamaterial.

Biafrawurde planmäßig mit Stereotypen besetzt, die in Westeuropa Sympathie und Hilfe mobilisieren sollten. Die Meldung, dass die Biafraner Ratten essen "müssen", sollte die Grausamkeit der nigerianischen Zentralregierung unterstreichen - Fotos davon gingen um die Welt. Ekel und Abscheu waren die Folge. Dass das Fleisch der Ratte in Westafrika zu den begehrtesten Delikatessen gehört - davon war in diesen Propagandaberichten nicht die Rede.

Die Massenmedien waren häufig nicht nur Mittel, sondern auch Ziele von Falschmeldungen. Als Pionier auf diesem Gebiet hat sich der Wiener Ingenieur Arthur Schützeinen Namen gemacht. Am 17. November 1911 schrieb er, wie er sich später erinnert, "unter dem Zwange eines mir selbst unbegreiflichen Impulses in einem Zuge, wie im Fieber, den haarsträubendsten technischen Unsinn, der mir gerade einfiel, in der Form eines Erdbebenberichtes an die ‚Neue Freie Presse‘ nieder. Alles an diesem Berichte war Spott und Hohn, und nichts als ein Höllenwirbel hirnrissiger Verkupplung aller technischen Begriffe."

Trojanische Hunde

Am nächsten Morgen stand jener Artikel in dem Wiener Prestigeblatt. Als Autor angegeben ist ein Dr. Ing. Erich Ritter von Winkler, Assistent der Zentralversuchsanstalt der Ostrau-Karwiner Kohlenbergwerke. In diesem absurden Nonsens-Bericht stand auch der Satz: "Völlig unerklärlich ist jedoch die Erscheinung, daß mein im Laboratorium schlafender Grubenhund schon eine halbe Stunde vor Beginn des Bebens auffallende Zeichen größter Unruhe gab."

Was hatte der Verfasser gemacht? Er hatte, sozialwissenschaftlich gesprochen, ein Feldexperiment gestartet. Er ging von der Hypothese aus, dass ein Bericht aufgenommen werde, sobald er nur "im Gewande der Wissenschaft schillere und von einem gut klingenden Namen gekennzeichnet sei" sowie "den ausgefahrenen Gedankenbahnen des Publikums und der Mentalität des Blattes entspreche". Diese Hypothesen konnte er verifizieren, dieses Mal und noch viele weitere Male. Schütz bereicherte die wissenschaftlich-technische Zivilisation in der Folge um "ovale Wagenräder" und "feuerfeste Kohlen", um "Degeneratoren" und "Seilrillen", um "Imprägnierungsanlagen für eichene Ridialholznieten und plombierte Zahnräder", um "Betonwürmer", "Para-finzündholzfabriken" und viele andere wundersame Innovationen.

Bereits 1556 hat Agricola in seinem wichtigen Werk über den Bergbau, "De re metallica", jenen hölzernen Laufwagen beschrie-ben, den die Bergleute als "Hund" bezeichnen. Seit Schütz ist dies ein pressetypologischer Begriff geworden. Im Unterschied zur Zeitungs-"Ente", der schlichten Falschmeldung, haben die "Grubenhunde"eine medienpädagogische Mission. Ihre Züchter wollen die mangelnde Kompetenz der Journalisten aufdecken, ihre Ignoranz züchtigen.

Prostata-Transplantation

Arthur Schütz ist 1960 gestorben. Die Grubenhunde leben weiter. Bis heute verbellen diese trojanischen Tiere mit den vier Rädern ihre Beute mit Vorliebe innerhalb der wissenschaftlich-technischen Berichterstattung. Da finden wir dann Meldungen über die erste erfolgreiche Prostata-Transplantation oder über Rindomaten-Zellen, eine gelungene Fusion von Pflanzen- und Tierzellen, die die Herstellung von Hamburgern erleichtert.

Welche Chancen haben Grubenhunde in Zeiten des Internets? Das wollte eine Diplomarbeit an der Universität Eichstätt testen. Eine Presseinformation, die per E-Mail verbreitet wurde, berichtete am 1. Juli 2004 von der Entdeckung eines menschlichen Sex-Gens durch eine Forschergruppe des Münchner Arthur-Schütz-Instituts. Viele Anfragen, darunter einige Bitten um Interviews mit dem Leiter des Forschungsprojekts, waren die Folge. Drei Medien berichteten in enger Anlehnung an die Pressemeldung von dieser "wissenschaftlichen Sensation". Da aber einige Redaktionen den Fake schon nach kurzer Zeit entlarvten, blieb ein größeres Medienecho für das Sex-Gen aus. Ergebnis dieses Experiments: Das Internet ist ein effektives Mittel, um Falschmeldungen zu lancieren. Aber es ermöglicht auch, diese durch gründliche Quellenrecherche schnell aufzudecken.

Die Sensibilität für Fehler ist im Journalismus inzwischen gewachsen. In großen Fernsehanstalten prüfen eigene Verifikationsabteilungen die Authentizität der Bilder und Filme. Da Social Media es heute für jeden möglich machen, vom Empfänger zum Sender zu werden, hat der Journalismus seine Rolle als Gatekeeper teilweise verloren. In Zeiten wachsenden Aktualitätsdrucks und zunehmender Medienkonkurrenz bleibt er anfällig für Falschmeldungen. Deshalb gilt auch für Medienleute von heute die Warnung an den Hauseingängen im alten Rom: Cave canem - hüte dich vor dem Hund!

Walter Hömberg, geboren 1944, war Lehrstuhlinhaber für Journalistik an der Universität Eichstätt. Er lehrt als Gastprofessor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien.