In Pakistans nördlichem Grenzgebiet zu Afghanistan sammeln paschtunische Stammesmilizen seit vorigem Sommer bescheidene, aber bemerkenswerte Erfolge. Diese miserabel ausgerüsteten "Lashkars" greifen die Taliban an, die sich aus Dörfern zurückziehen und somit der erprobten Taktik aller Guerilla- und Terrorstrategen von Mao Zedong über Tito bis Fidel Castro folgen: die eigenen Kräfte um jeden Preis erhalten und verlustreiche Scharmützel vermeiden.
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Hier rückt Lenins klassische Definition einer "revolutionären" Lage ins Bild: "Die unten tun nicht mehr, wie sie sollen, und die oben können nicht mehr, wie sie wollen." Mao entwickelte daraus die Drei-Stufen-Theorie der irregulären Kriegführung: Erst Mobilisierung des Volkes gegen die Unterdrücker, die mit selektivem Terror überraschend angegriffen werden. Diese "Propaganda der Tat" soll beweisen, dass die "Unterdrücker" keineswegs unverwundbar sind. Dann folgt die politische Organisation des Volkes, indem der bewaffnete Rebell "wie ein Fisch im Meer untertauchen" kann. Das bietet die Voraussetzung der "Militarisierung" - der militärischen Ausbildung und Bewaffnung eines "Volksheeres", um "befreite Gebiete" als Basis für einen regulären Krieg zu schaffen.
Vor diesem strategischen Szenario leuchtet ein Kernsatz Maos ein: "Terrorismus ist Abenteurertum", nämlich nur die Waffe des Schwachen, der (noch) keine Basis im Volk hat. Genau deshalb erringen die "Lashkars" Erfolge über die Taliban, die das Volk erst "befreit", dann terrorisiert und sich damit seine Loyalität verscherzt haben.
Die auf gut 13.000 Mann geschätzten Taliban in Nordwestpakistan decken einen harten Kern von etwa 500 Al-Kaida-Terroristen. Diese bestens geschulten und bewaffneten Kämpfer verstoßen nun eklatant gegen Maos Strategie. Sie schlagen mit "wahllosem" Terror zurück, der als Rachekampagne mit Blutbädern unter den Zivilisten Schrecken verbreitet und signalisiert, dass niemand seines Lebens sicher ist.
Abgesehen davon, dass Taliban und Al Kaida - so wie Osama bin Laden - in Schlupfwinkeln eines schwer zugänglichen Gebietes von der Größe Österreichs spurlos untertauchen: Die bestehende Staatsmacht in Pakistan und Afghanistan hat aus einer Vielzahl von Gründen kaum eine Basis in der ländlichen Bevölkerung. Das relativiert leider auch die Erfolge der "Lashkars".
Ein klassischer Satz des legendäre Lawrence von Arabien illustriert das Problem: "Ein Soldat kontrolliert nur, worauf er sein Gewehr richten kann." Auf wen richten pakistanische oder afghanische Truppen aber das Gewehr, falls sie mit westlicher Hilfe Taliban und Al Kaida schlagen sollten? Offensichtlich auf jene, die sich mit ebenso schwachen wie korrupten und autoritären Regimes nicht abfinden wollen. Welche Hoffnungen wecken solche Regimes bei den "Lashkars" und im Volk? Hoffnung auf Allah ist zu wenig. Also zeigen die "Lashkars" zwar einen gangbaren Weg, doch das Ziel liegt im Nebel.
Clemens M. Hutter war bis 1995 Ressortchef Ausland bei den "Salzburger Nachrichten".