Ethische Fragen zu medizinischen Entwicklungen: Keine Grenze ist objektiv.
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Ein Chip gibt Medikamente genau dort im Körper ab, wo sie benötigt werden - keine Nebenwirkungen. Forscher des renommierten Massachusetts Institute of Technology setzen diese kleine "Apotheke unter der Haut" nun sieben Osteoporose-Patientinnen ein, in der Hoffnung auf medizinischen Erfolg. Andere US-Forscher gehen noch weiter: Sie haben winzige Nano-Roboter gebaut, die, in den Körper eingeschleust, Krebszellen töten sollen. Umgekehrt können wiederum andere Nanopartikel schädlich sein, weil sie die Eisen-Aufnahme im Darm verändern.
Es vergeht kein Tag, ohne dass die Welt der Wissenschaft neue Entwicklungen und Erkenntnisse zeitigt. Dabei vermischen sich zunehmend Mensch, Maschine und Natur. Im Labor werden sogar künstliche Organismen geschaffen. Über der Vogelgrippe-Forschung hängt derzeit ein Moratorium: Bei ihrer Suche nach einem Mittel gegen das Vogelgrippe-Virus haben Mediziner um Ron Fouchier von der Erasmus Universität in Rotterdam herausgefunden, welcher genetischer Mutationen es bedarf, um den Erreger nicht nur für Vögel sondern auch für Menschen hochansteckend zu machen. Aus Angst, Bioterroristen könnten dessen habhaft werden, werden die Forschungsarbeiten mit dem extrem gefährlichen künstlich erzeugten Erreger nun blockiert. Visionen aus Science-Fiction-Filmen, in denen Schurken die Welt mit einem aus einem Hochsicherheitstrakt geklauten Virus auszulöschen suchen, werden wach. Fällt uns unser Forschungsdrang, der die Natur zwangsläufig verändern muss, am Ende auf den Kopf?
Wo sich die Geister scheiden
Für die meisten christlichen Kirchen gilt vieles, was die Wissenschaft vorantreibt, als unethisch. Sie bringt insbesondere Bedenken gegen die fortschreitenden Möglichkeiten der künstlichen Befruchtung (In-vitro-Fertilisation, IVF) vor. Der Mensch dürfe nicht Gott spielen, betonen Vertreter des fundamentalistischen Flügels. Wem kein Kinderglück beschieden sei, der müsse sich damit abfinden, dürfe nicht in die Natur eingreifen und schon gar nicht eine Auswahl auf der Basis genetischer Tests treffen, welcher Embryo (und damit: welche Form des ungeborenen Lebens) in den Mutterleib eingesetzt werden darf. Doch genau dort, wo dieses Argument ungenügend ist, beginnen die Probleme erst so richtig. Denn in der Frage, wo die Grenzen gezogen werden dürfen zwischen dem, was pragmatischerweise erlaubt sein sollte, und dem, was vorsichtshalber verboten sein müsste aufgrund seiner unabsehbaren Konsequenzen, scheiden sich die Geister.
Der Begriff "natura" (von "nasci" für "geboren werden") bezeichnet als Vorstellung alles, was nicht vom Menschen geschaffen wurde. Sich damit abzufinden, was die Natur austeilt, wäre somit die Passivität gegenüber der Evolution, die Natur ein sich selbst schaffender Prozess und der Mensch ihr Untertan. Müsste er die Natur stets unverändert lassen, dürfte er nicht einmal eine Fallgrube bauen, um ein Tier zu fangen.
Jäger statt Vegetarier
Jedoch hat die natürliche Evolution den Menschen mit Intelligenz ausgestattet, die ihm ermöglicht, Jagd-Strategien zu entwickeln, anstatt nur das Gras zu essen, das unter seinen Füßen wächst. Er hat aufgehört, als Vegetarier in einer Höhle zu leben, und richtet es sich stattdessen in Häusern bequem ein. Reine Natur aber ist weder bequem noch schön - die Schönheit entsteht im Auge des Betrachters, der kraft der Intelligenz über der natürlichen Evolution steht. Alles an der Zivilisation ist eine Veränderung der Natur.
Nicht Gott spielen zu dürfen, bezieht sich somit wohl eher auf ein Leben möglichst im Einklang mit der Bibel. Dieser Haltung folgen etwa die Amischen, eine Glaubensgemeinschaft der reformatorischen Täuferbewegung Mitteleuropas, die heute in 28 Staaten der USA lebt. Amische führen ein Leben ausschließlich auf der Basis der Landwirtschaft, lehnen viele Seiten des technischen Fortschritts ab, akzeptieren Neuerungen nur nach reiflicher Überlegung und legen Wert auf eine heterosexuelle Familie mit klar vorgegebenen Geschlechterrollen. Ihre Auslegung der Bibel geht so weit, dass sie keine Knöpfe für Kleidung haben, weil diese in der Bibel, deren Neues Testament vor rund 2000 Jahren und deren Altes Testament nach und nach im Jahrtausend davor entstanden ist, nicht vorkommen.
Was für die damalige Zeit fortschrittlich war, ist heute kaum durchführbar, besonders wenn die Sexualität mitspielt. Speziell in Fragen der Gleichberechtigung beruht die Bibel auf Vorstellungen, deren Aktualität in der heutigen Gesellschaft nicht mehr gegeben ist. Das Problem ist jedoch, dass es kein "Ersatzbuch" als Leitlinie der Werte gibt, das ähnlich verbreitet wäre. Jede neue ethische Sicht wird zur Frage des Standpunkts und der Interpretation überlieferter ethischer Vorstellungen. In einer Ausgabe des Magazins "Geo" wird beispielsweise die Problematik der Leihmutterschaft thematisiert, bei der aus medizinischen Gründen eine Frau für eine andere ein Kind austrägt. "Die Bedenken, die gegen die Leihmutterschaft und besonders deren kommerzielle Form vorgebracht werden, konzentrieren sich auf miteinander verwobene Argumente: die Ausbeutung der Frau, die Degradierung der Fortpflanzung und damit der Kinder zu Waren und die Verletzung der Menschenwürde. Aus feministischer Sicht kann man die Leihmutterschaft aber auch positiv sehen, weil sie Frauen zusätzliche Freiheiten gewährt, wie ein Kind ohne Schwangerschaft zu bekommen und den eigenen Körper zu ihrem Vorteil zu nutzen", schreibt dort der deutsche Mediziner und Jurist Rainer Erlinger. Welche Sicht ist jedoch richtig?
"Messen, was zu messen ist"
Es bleibt, was Wissenschafter vielfach als ihren göttlichen Auftrag begreifen. "Der Auftrag in der Schöpfungsgeschichte ,Macht Euch die Erde untertan bedeutet: Verwendet die Ressourcen, wie ihr wollt und es für richtig haltet, sowie dass die Welt zu hegen ist", sagt der Wiener Philosoph Peter Kampits. In der Neuzeit wird die Natur zunehmend als etwas betrachtet, dessen Gesetze wir verstehen und beherrschen können. Galileo Galilei empfahl in diesem Sinn, "alles zu messen, was messbar ist, und messbar zu machen, was noch nicht messbar ist", und Francis Bacon betonte: "Wissen ist Macht." Die Natur wird zum manipulierbaren Gut, wobei der Mensch selbst Teil dieser Natur ist. In der Postmoderne wurde schließlich ein "Terror der Naturwissenschaften" wahrgenommen, der die arme Natur ausbeutet.
Dem gegenüber stehen technische Entwicklungen der Medizin: "Was sich früher aus sich selbst entwickelte, wird nun in die Hand genommen und manipuliert. So wurde früher etwa die Unfruchtbarkeit als Schicksal hingenommen, während wir heute in das aus sich selbst heraus Gegebene, das ,Naturgegebene, gravierend eingreifen können", so Kampits.
Eingriff in das Schicksal
Zwangsläufig wirft das Fragen auf, die niemand beantworten kann. Die Geburtsmedizin bringt heute Frühchen mit vier Monaten durch. Nimmt das Kind dafür Schäden in Kauf? Die Pränataldiagnostik untersucht ungeborene Kinder im Mutterleib auf Behinderungen. Wie soll sich jedoch eine Frau die Frage beantworten, ob sie ihr Kind abtreiben lassen will, weil es Gene für Chorea Huntington hat - eine Krankheit, die erst ab dem 25. Lebensjahr ausbricht, aber dann tödlich verläuft; zumal bis dahin die Medizin ein Gegenmittel gefunden haben könnte. Ist es angesichts all dessen nicht besser, schon im Reagenzglas gesunde Eizellen zu selektieren, anstatt später vor die womöglich schwerste Wahl gestellt zu werden? Oder öffnet die gesetzliche Freigabe Tür und Tor zu einer gesellschaftsumstürzenden genetischen Selektion? Heute ist etwas Derartiges ist Zukunftsmusik, doch das kann sich in 100 Jahren geändert haben, und dann gäbe es aufgrund der Präzedenzfälle kaum juristische Eingriffsmöglichkeiten.
Kampits plädiert für ein sensibles Vorgehen von Fall zu Fall. "Es bedarf einer differenzierten, situativen Ethik. Man muss von bestimmten ethischen Verantwortungen ausgehen, die sehr weit gespannt sind, als Leitlinie für den Umgang mit individuellen Situationen", sagt der Philosoph.
Dass es schwierig ist, Grenzen zu setzen, die für alle sinnvoll sind, zeigt das Gesetz für den IVF-Fonds. Demnach kommt die Krankenkasse bei Sterilität insgesamt vier Mal für eine künstliche Befruchtung auf. Doch selbst das hilft nicht immer, erklärt die Kinderwunsch-Patientin Sabine B., der vor drei Jahren beide Eileiter entfernt werden mussten, nun nach ihrem dritten gescheiterten IVF-Versuch: "Ich habe nur noch zwei Chancen auf ein Kind. Ein Mal bezahlt die Kasse noch, und höchstens ein zweites Mal können wir uns leisten." Keine Grenze kann Objektivität herstellen. Einzig eine individuelle Gesetzgebung wäre gerecht. Und die gibt es nicht.