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Wie Diplomaten und Generäle vor und beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs versagten.
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Am 25. Juli 1914 um 18.30 Uhr verließen der k.u.k. Gesandte Wladimir Baron Giesl von Gieslingen und das Gesandtschaftspersonal Belgrad mit dem fahrplanmäßigen Personenzug nach Budapest. Der Zug querte die Save und war in der ungarischen Reichshälfte der Donaumonarchie, im Grenzbahnhof Semlin. Um 17.58 Uhr hatte der serbische Ministerpräsident Paić die auf jeden Punkt des Ultimatums vom 23. Juli eingehende, in subtilem Französisch abgefasste vierseitige Antwortnote seiner Regierung in der Gesandtschaft überreicht.
Elmar Samsinger (im "extra" vom 28. Juni 2014) schließt zurecht, dass Giesl die Antwort nicht analysieren, sondern nur feststellen konnte, dass sie keine bedingungslose Annahme enthielt. Giesl folgte der strikten und keine Interpretation zulassenden Weisung des k.u.k. Außenministers Graf Berchtold. So gelang es ihm, den von der Gesandtschaft in der heutigen Markovića-Strasse 20 einen Kilometer entfernten Bahnhof abfahrtszeitgerecht zu erreichen; Reservatschriftstücke hatte man vorsorglich schon vorher über die Grenze gebracht. Auf eine bestimmte Erwartungshaltung lässt auch schließen, dass die Diplomaten mit der Abreise an jenem Samstag nicht einmal auf den bequemeren Orient-Express um 22.39 Uhr warteten, der rascher und direkt nach Wien fuhr, mit der Ankunft in Wien am 26. Juli schon um 11.04 Uhr.
Damit waren die diplomatischen Beziehungen zwischen der Donaumonarchie und dem Königreich Serbien abgebrochen. Die vertretungsweise Betrauung eines anderen Staates mit der Wahrung der eigenen Interessen ist erst seit der Wiener Diplomatenkonvention (1961) üblich - und die k.u.k. Regierung hatte keinen Kontakt mehr zur serbischen.
Kriegsfall "B"
Der k.u.k. Generalstab unter Franz Freiherr Conrad von Hötzendorf arbeitete bereits seit 1903 - Ermordung des austrophilen Königs Alexandar Obrenović in einer Palastrevolte und Wechsel zum russophilen Petar Karadjordević - intensiv an einem Kriegsfall "B" (Balkan) in Generalstabskriegsspielen, mit Transport- und Operationsplänen, in Manövern.
Aufmerksam und besorgt mussten Wien und Budapest die Erfolge Serbiens in den Balkankriegen 1912 und 1913, seine Vergrößerung und die Lieferung von Rüstungsgütern aus Frankreich und Russland zur Kenntnis nehmen. Sich der von Piemont ausgehenden Einigungskriege Italiens erinnernd, in denen Habsburg u.a. die Toskana und Lombardo-Venetien verloren gingen, sah man in Serbien das "Piemont des Balkans": Es wollte die von Südslawen bewohnten Gebiete der Monarchie im Kampf gewinnen, zu einem Südslawischen Königreich vereinigen.
Dies und ein Hafen an der Adria waren leicht erkennbare Ziele Belgrads. Vorschläge Conrads für einen Präventivkrieg gegen Serbien im 1. Balkankrieg 1912 - es kam sogar zu einer Teilmobilisierung - wurden von Kaiser und Thronfolger abgelehnt.
Mit der Ermordung Franz Ferdinands und den Indizien, dass sie von Belgrad aus (mit-)geplant worden ist, glaubte Conrad nun auch den Kaiser von einem Kriegsgrund überzeugen zu können. In Berchtold, dem Franz Joseph voll vertraute, fand er einen gleichgesinnten Partner. Die rechtlich für die Mobilmachung bzw. den Kriegszustand notwendigen Anordnungen und Kundmachungen lagen seit Jahren in den Safes; in ihnen waren nur das Datum und einige Ortsangaben einzusetzen. Ab Ende Juni 1914 begann man den Aufmarsch gegen Serbien wieder durchzuspielen.
Zwei Möglichkeiten eines Angriffes auf das dank langer Flussgrenzen - Donau, Save und Drina - sowie Gebirgsketten an der dalmatinischen Grenze recht schwierig zu gewinnende serbische Terrain boten sich an: Der direkte Angriff auf und die Besetzung von Belgrad nach einer Donauüberquerung östlich der Stadt (mit dieser Taktik hatte bereits 1717 Prinz Eugen Belgrad erobert) oder die Forcierung der Drina an der serbischen Westgrenze und der Vorstoß ins Landesinnere, Richtung Valjevo und Kragujevac, dem zentralen Kriegsarsenal Serbiens.
Gegen die erste Variante sprach die Vermutung, dass die serbische Armee Belgrad, im Schussfeld von am ungarischen Donauufer platzierten Skoda-30,5 (Belagerungsmörser) gelegen, nicht hinhaltend verteidigen, sondern sich, einer kriegsentscheidenden Schlacht ausweichend, ins Landesinnere zurückziehen würde. Einen solchen, längeren Krieg konnte und wollte man sich im k.u.k. Generalstab nicht vorstellen. Gegen die zweite Variante, den Aufmarsch durch Bosnien, sprach das rudimentäre Eisenbahnnetz dort und das schwierige Gebirgsterrain.
Teilmobilisierung
Die - vom Kaiser gebilligte - Entscheidung Conrads fiel für die zweite Variante: Die 5. und die 6. Armee sollen über die Drina hinweg den Zentralraum Serbiens erobern, die 2. Armee, von der Festung Peterwardein aus geleitet, an der Donau nur Sicherungsdienste ausüben. Zwei Gründe waren für diese Entscheidung maßgeblich: Das Drängen von Feldzeugmeister Potiorek, der als Landeschef in Sarajevo und Ortskundiger diese Südgruppe als Oberbefehlshaber "Balkan" leiten und damit sein Versagen am 28. Juni vergessen machen konnte, und die Frage, ob Russland auf serbischer Seite in den Krieg eintreten würde - diesfalls wäre die 2. Armee nach Galizien zu instradieren gewesen. Am 25. Juli wurde in Wien die Teilmobilisierung nur für den Kriegsfall "B" angeordnet, die für die 2., 5. und 6. Armee bestimmten Truppen einberufen; der ausgeklügelte Eisenbahn-Transport begann.
Wie so oft in Österreich waren die an der Willensbildung Beteiligten zu hoffnungsvoll. Der Beschluss des russischen Kronrats am 25. Juli für Kriegsvorbereitungen aller Militärdistrikte stärkte Serbien den Rücken, alarmierte aber Berlin, war er doch auch gegen das mit Österreich-Ungarn verbündete Deutsche Reich gerichtet. Denn damit begannen die Bündnispflichten wichtiger zu werden als der lokale Konflikt um Serbien: Großbritannien, Frankreich und Russland waren in der Entente verbunden; Österreich-Ungarn, das Deutsche Reich und Italien im Dreibund, dem auch Rumänien nahe stand. Da diese Verträge meist auf eine Beistandspflicht nach einem Angriff abstellten, mühte sich die jeweilige Diplomatie, solche "Angriffe" zu konstruieren.
Einen Vermittlungsversuch zur Abwendung eines Krieges gab es: Britische Diplomaten schlugen am 26. Juli eine Botschafterkonferenz vor, in der Österreich-Ungarn auf diplomatischem Weg Genugtuung finden sollte. Berlin lehnte ab, Wien in diesem Sinne zu beeinflussen. Am 30. Juli telegrafierte Kaiser Wilhelm II. doch an Kaiser Franz Joseph, dass im Sinne des Londoner Vorschlages Österreich-Ungarn nur Belgrad besetzen solle, um den schon erklärten Krieg zu lokalisieren. Am 31. Juli lehnte dies der gemeinsame Ministerrat in Wien ab. Das Bewusstwerden von Kriegszielen gewann die Oberhand: Das Deutsche Reich wollte zur bestimmenden Macht am Kontinent werden, Russland am Balkan; Frankreich wollte Elsass-Lothringen nach dessen Verlust 1871 wieder, Großbritannien sah ein stärkeres Deutsches Reich als Bedrohung seiner Kolonien; einzig die Donaumonarchie wollte die Erhaltung ihres Status quo.
Am Ballhausplatz bemühte man sich in diesen Tagen, Italien auf die eigene Seite zu ziehen - doch Rom verwies auf einen Artikel im Dreibundvertrag, den es so auslegte, dass es vom Ultimatum hätte verständigt werden müssen, und erklärte sich neutral; desgleichen tat Rumänien. Von Wien aus wollte man wenigstens die italienische Presse beeinflussen, und stellte dafür großzügig Geld zur Verfügung; Montenegro wollte man direkt bestechen, damit sich die Regierung von Serbien löse.
Erste Kriegserklärung
Von der Abreise Giesls aus Belgrad informiert, wartete am 26. Juli Außenminister Berchtold in Bad Ischl auf eine Audienz beim Kaiser, mit einer bereits formulierten Kriegserklärung und einem Entwurf für das kaiser- und königliche Manifest "An meine Völker". Er informierte den Monarchen noch, dass an der Donau serbische Truppen bereits auf k.u.k. Truppen geschossen hätten.
Das stellte sich zwar bald als Falschmeldung heraus, doch es war eines der Argumente, die den Kaiser veranlassten, die Dokumente rasch zu unterfertigen sowie die Mobilmachung für den Fall "B" zu verfügen. Anzumerken ist hier, dass nach den Verfassungen 1867 die auswärtige und die militärische Gewalt Prärogativen des Kaisers bzw. Königs waren, weder der Wiener Reichsrat noch der Budapester Reichstag waren zu befassen (heute entschiede nach Art. 38 unserer Bundes-Verfassung die Bundesversammlung über eine Kriegserklärung - wohl obsolet seit dem Bundesverfassungsgesetz 1955 über die immerwährende Neutralität).
Die abgebrochenen Beziehungen erschwerten die Übermittlung dieser Kriegserklärung. Das Außenministerium vermutete, dass die serbische Regierung Belgrad bereits verlassen hatte, und sandte ein Telegramm ins südserbische Ni nach, wo es am Mittag des 28. Juli zugestellt werden konnte. Damit hatte der Krieg begonnen. Gut zwei Dutzend Kriegserklärungen folgten in den nächsten Wochen.
Die ersten Schüsse dieses Krieges wurden von k.u.k. Donaumonitoren (Schiffen) an der Mündung der Save in die Donau auf Belgrad abgefeuert. Doch zu Kämpfen in Serbien kam es erst am 14. August. So lange brauchte der Anmarsch der 5. und der 6. Armee ins Drinatal, auch verzögert durch Zugszusammenstöße auf den überlasteten Eisenbahnen im Südosten der Monarchie. Potiorek befehligte rund 282.000 "Gewehre" und 744 Geschütze - doch die "Bemannung" dafür war ausnahmslos kriegsunerfahren. Und sie stand einer in zwei Balkankriegen erprobten, etwa gleich starken serbischen Armee gegenüber. Die kämpfte noch dazu im und um das eigene Land, von der Bevölkerung unterstützt und von einem Stabschef geführt, der sich bereits in den Balkankriegen als überlegener Stratege ausgewiesen hatte: Dieser Vojwode Putnik war im Juli 1914 in Bad Gleichenberg auf Kur, wurde bei der Abreise verhaftet, aber nach Intervention von Franz Joseph wurde ihm die Ausreise nach Serbien ermöglicht, da der Krieg noch nicht erklärt war.
Nach Überquerungen der Drina stockte schon der Vorstoß: Mangel an Brückengerät, Verirrung im Gelände, Hitze, "Ringstraßengeneräle" als Befehlshaber, der Ausfall von Aufklärungsflugzeugen, Potioreks beratungsresistentes Führen vom Kartentisch aus, beschönigenden Frontberichten glaubend. Ende August musste Potiorek das Scheitern der Offensive eingestehen, blieb aber bis zum Untergang der beiden Armeen an der Kolubara und vor Belgrad im Dezember 1914 mit Zigtausend Gefallenen und Vermissten im Amt. Ihm wird ein Pensionierungsansuchen nahegelegt; er zieht sich in seine Heimat Kärnten zurück, wo er 1933 stirbt.
Noch folgenschwerer als diese Niederlagen gegen Serbien zu Kriegsbeginn - erst im Oktober 1915 kann Belgrad, mit deutscher Hilfe, dauernd besetzt werden - war die Wirkung auf die neutralen Staaten, die nun mehr und mehr der Entente zuneigten, und auf die Front in Galizien: Am 30. Juli war in Wien klar, dass auch gegen Russland Krieg zu führen sein wird. Die Generalmobilmachung erfolgte. Einige der für diesen Kriegsfall "R" bestimmten Armeen waren aber bereits auf dem Weg an die serbische Grenze, so auch die 2., deren Aufmarsch nicht mehr "umgedreht" werden konnte. Ihr Verbleib an der serbischen Front war nur kurzfristig, reichte aber zu einem Brückenschlag über die Save mit der Eroberung von abac.
Die Stadt wurde zerstört und einige Hundert Zivilisten, die die serbische Armee unterstützt haben könnten, völkerrechtswidrig erschossen. Ende August musste abac wieder aufgegeben werden, da die 2. Armee an die galizische Front abging - und dort zu spät kam, um den Verlust Lembergs zu verhindern; man hatte in Wien auch die Raschheit des russischen Aufmarsches unterschätzt.
Telegramm im Museum
Die Dynastie Karadjordević überlebte die Habsburger als Herrscher nur um zwei Jahrzehnte. Doch nach dem siegreichen Krieg erbaute sie in Topola, einer Kleinstadt 90 km südlich Belgrads, mit der St. Georgskirche ein Mausoleum (entworfen von dem 1849 in Wien geborenen Konstantin Jovanovic); hier ruht seit 2013 auch Jugoslawiens letzter König, Petar II., der 1941 von der deutschen Wehrmacht vertrieben wurde und 1970 im Exil in den USA starb.
Gleich darunter, in einem kleinen und kaum mehr besuchten Museum, liegt in einer verstaubten Vitrine das Original des Telegramms, dessen Worte, dass sich Österreich-Ungarn von nun an im Kriegszustand mit Serbien befinde, eine Büchse der Pandora öffneten, die allein auf dem Gebiet des heutigen Österreich 190.000 Menschenleben kostete. Doch auch Serbiens Opfer lohnten sich, aus heutiger Sicht, nicht: Das Serbien des Jahres 2014 ist kleiner als jenes des Jahres 1914, und wieder ohne Meeresküste.
Gerhard Stadler war Sektionschef und Direktor einer internationalen zwischenstaatlichen Organisation und befasst sich nun publizistisch mit den "rot-weiß-roten Spuren" in der Welt.