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Panik ist kein guter Ratgeber

Von Bernd Spatzenegger

Gastkommentare
Bernd Spatzenegger ist Projektmanager und in ganz Europa als Berater für Energieinfrastruktur, unter anderem zur Errichtung von Anlagen für erneuerbare Energien, tätig.
© privat

Wie energiepolitische Schnellschüsse unsere langfristigen Perspektiven schwächen.


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Woher kommt unsere Energie im nächsten Jahr? Und woher kommt sie 2050? Wird sie "sauber genug" sein, um den Klimawandel stoppen zu können? Sind die Klimaziele wichtiger als Versorgungssicherheit und Energiekosten - und kann man das eine vom anderen trennen? Der russisch-ukrainische Krieg hat Energieversorgung, Energiepreise und -technologien ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: Flüssiggas, Windkraft, Photovoltaik, Biomasse, Biogas, Wasserstoff, Atomkraft, Kernfusion, Carbon Capture, Schiefergas - leicht ließe sich die Übersicht verlieren.

Die Europäische Union hat versprochen, ihre Energieversorgung spätestens ab 2050 CO2-frei zu gestalten, um die Klimaerwärmung bis zum Ende des Jahrhunderts auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Österreich will seine Ziele bereits im Jahr 2040 erreichen. Wenn Sie glauben, wir müssten uns "nur" anstrengen, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, dann ist hier die schlechte Nachricht: Das stimmt nicht! Es ist nicht zu schaffen, und das 2-Grad-Ziel ist ebenfalls tot. Selbst unter 3 Grad Temperaturerhöhung zu bleiben, ist eher unwahrscheinlich. Und lokal, zum Beispiel im Alpenraum, kann die Erwärmung auch doppelt so hoch werden!

Kein Sprint, sondern ein Marathon

Der Klimawandel wird den Lebensraum für Menschen, Tiere und Pflanzen stark verändern und uns vor enorme Herausforderungen stellen. Doch trotz aller Hiobsbotschaften: Die Welt wird nicht untergehen. Auch für unsere Kinder und Enkel wird sie noch ein lebenswerter Ort sein, und vor allem: Die Erderwärmung lässt sich stoppen, erfolgreich und nachhaltig - allerdings nicht im Sprint, vielmehr im generationenübergreifenden Marathon. Aber warum schaffen wir es nicht, den Klimawandel früher zu stoppen?

Europa ist keine Insel. Wir müssen über die Grenzen hinausblicken. Märkte für fossile Brennstoffe sind international. Öl, das wir in Europa nicht konsumieren, wird in Indien, China oder sonst wo in der Welt verbraucht - damit ist der Atmosphäre nicht geholfen. China und Indien brauchen billige Energie für das Wohlstandswachstum und die Konkurrenzfähigkeit gegenüber Europa und den USA. Um die Erwärmung der Erde zu stoppen, müssten jedoch alle Länder weltweit ihre CO2-Emissionen aus den fossilen Brennstoffen beenden. Alles andere verlangsamt nur den Klimawandel.

In den vergangenen 30 Jahren konnten wir den Anteil der erneuerbaren Energien am Gesamtenergieverbrauch in Europa nur leicht erhöhen. Knapp 80 Prozent der Energie, die wir heute in Europa verbrauchen, stammen noch immer aus Öl, Gas, Kohle und Atomkraft. 27 Jahre verbleiben, um das für die Umstellung notwendige Fachpersonal, die Platz- und Rohstoffressourcen, das erforderliche Geld und die Akzeptanz dafür aufzubringen.

Es braucht eine Energie-, Wärme- und Mobilitätswende gigantischen Ausmaßes und die Umstellung vieler Industrieprozesse. Speicher, Strom- und Gasnetze werden benötigt. Allein die Umstellung des Gebäudebestands ist eine Herkules-Aufgabe.

Erneuerbare Gesamtenergiesysteme sind teuer. Die Öffentlichkeit wird gerne geblendet mit Begriffen wie "Merit-Order" und "billigen Grenzkosten" der Windenergieerzeugung. Doch tatsächlich ist der Aufwand, um ganzjährig - auch im Winter und nachts - stabil Energie zur Verfügung zu stellen, erheblich. Die Wirtschaftlichkeit ist noch lange nicht gegeben und führt damit zu De-Industrialisierung und Wohlstandsverlust.

China stößt derzeit ein Drittel der weltweiten CO2-Emissionen aus und will im Jahr 2060 "klimaneutral" werden, Indien 2070 und wird China bei den Emissionen bald überholen. Europas Anteil liegt bei 8 Prozent.

Waren bisher die Opec-Länder, Russland und die USA als Energielieferant tonangebend, werden es zukünftig die Elektro-Rohstoffländer sein, wie beispielsweise China (Seltene Erden), Chile (Lithium) und Kongo (Kobalt). Der demokratische Westen steht weiterhin im Systemwettbewerb mit Autokratien und Diktaturen, für die Maßnahmen gegen den Klimawandel ein Faustpfand und keine Ambition sind. Wird Europa in der Lage sein, eigene Interessen zu vertreten?

Wir können und müssen trotzdem etwas tun

Dennoch sind wir mit Optimismus gut beraten. Denn wir können und müssen trotzdem etwas tun:

Eine breite Vielfalt der oben angeführten Technologien wird gemeinsam mit Energieeinsparungen und Verhaltensänderungen einen Beitrag leisten, emissionsärmer zu werden. Wir müssen die erneuerbaren Energien ausbauen, Netze, Speicher und Reservekapazitäten errichten und technologieoffen bleiben. Dafür müssen wir das Verständnis dafür deutlich erhöhen und die rechtlichen Voraussetzungen verbessern.

Wir müssen Energie einsparen. Ein wesentlicher Ansatz liegt dabei in der Elektrifizierung der Mobilität und der Wärmeerzeugung. Und wir müssen unser Verhalten anpassen: beim Wohnen, bei der Mobilität und beim Konsum.

Hochentwickelte Wirtschaften mit einem steigenden Anteil an Dienstleistungen haben es geschafft, Wohlstands- und Energiewachstum zu entkoppeln. Diesen Weg müssen wir fortsetzen. Wir müssen unsere Rohstoffquellen diversifizieren und unsere Wirtschaft viel stärker in Richtung einer Kreislaufwirtschaft entwickeln. Beim wirklichen stofflichen Recycling stehen wir gerade erst am Anfang.

Der Klimawandel ist leider unvermeidlich. Daher müssen wir uns und unseren Lebensraum anpassen, jetzt und in den kommenden Jahrzehnten.

Die letzten 30 Prozent sind richtig mühsam und teuer

Das waren die "leichten" 70 Prozent des Weges. Die verbleibenden 30 Prozent der Treibhausgasvermeidung werden richtig mühsam und teuer in den Bereichen Langzeit-Energiespeicher, bei schwierigen und energieintensiven Industrieprozessen, Teilen der Mobilität (Flugverkehr), der Ernährungsumstellung und vielem mehr. Den Übergang so zu gestalten, dass wir nicht unseren Wohlstand zugunsten der "Trittbrettfahrer" des Klimawandels vernichten, wird mehr als herausfordernd. Wie überzeugen wir Länder wie Indien, China sowie weite Bereiche Südostasiens und Afrikas, sich diesem Weg anzuschließen, wenn sie damit ihre Wohlstandsentwicklung bremsen müssten?

Trauen wir unserer Politik zu, die richtigen Wege zu erkennen? Der "Inflation Reduction Act" der USA versetzt sie in Panik. Die Europäische Union und die Nationalstaaten versuchen mit zentral gesteuerter "Zuteilungswirtschaft" in Form von Schulden und Subventionen dagegenzuhalten und jene Bereiche zu fördern, die sie als zukunftsfähig erachten. Waren derartige Systeme jemals in der Lage, mit knappen Ressourcen innovativ, effizient und effektiv umzugehen? Oder werden wir ein System erhalten, das so ineffizient und unumkehrbar ist wie jenes der EU-Landwirtschaft, in der die Bauern zum Almosenempfänger reduziert werden und sämtliche Innovation im Keim erstickt wird?

In seinem Buch "Die Energielüge" zeigt Bernd Spatzenegger auf, wo die großen Missverständnisse unserer Energiezukunft liegen, und versucht einen unvoreingenommenen Blick auf die Realität einzunehmen. Anhand anschaulicher Vergleiche erklärt er Fakten und Zusammenhänge, beschreibt Anwendungsbereiche, Vor- und Nachteile der Technologien und Maßnahmen und gibt Praxistipps. Er zeigt internationale Zusammenhänge mit Rückwirkung auf unser Leben in Europa auf und versucht viele der oben gestellten Fragen zu beantworten.