Im Zeitalter des rasanten Artensterbens nehmen Zoos gerne für sich in Anspruch, allein schon durch ihre Existenz und ihre Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung der Arten zu leisten. Doch tun sie das wirklich? Und wie zeitgemäß sind Tiergärten überhaupt?
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Über Jahrhunderte waren Menagerien reine Ausstellungsflächen für exotische Tiere, das Privatvergnügen von Königshäusern oder reichen Adeligen: In winzigen, kahlen Käfigen vegetierten Löwen, Elefanten, Giraffen oder Affen in Einzelhaltung vor sich hin, herausgerissen aus ihrer natürlichen Umgebung und hineingestoßen in ein im Allgemeinen recht kurzes Leben ohne Sozial-kontakte mit ihresgleichen, ohne artgerechte Umgebung und Beschäftigung. Doch dafür interessierte sich niemand, es ging einzig darum, die größte, außergewöhnlichste Sammlung zu besitzen und damit Reichtum und Macht zur Schau zu stellen.
Dann kam allerdings der Schweizer Heini Hediger: Der studierte Zoologe und Zoodirektor läutete mit seinen auf Verhaltensbiologie ausgerichteten Forschungen und seinem Werk "Wildtiere in Gefangenschaft. Ein Grundriss der Tiergartenbiologie" im Jahr 1942 endgültig eine neue Ära der Tierhaltung in Zoos ein. Sein Konzept des modernen Tiergartens sah den Zoo als Erholungsraum für die Stadtbevölkerung und somit einen Notausgang zur Natur. Er sollte eine Informationsquelle auf dem Gebiet der Natur, insbesondere der Tierkunde, sein und somit allgemein der Bildung dienen.
Hediger stellte auch den Gedanken des Naturschutzes und der Bedeutung des Zoos als Refugium und Zuchtstation in den Vordergrund, ebenso wie die wissenschaftliche Forschung und die Untersuchung des Verhaltens der Tiere. Das – und mehr – sind auch die Grundprinzipien, die der Weltzooverband WAZA (World Association of Zoos and Aquariums) und der Europäische Zooverband EAZA (European Association of Zoos and Aquariums) für ihre Mitglieder vorschreiben. Diese Standards hat auch der Tiergarten Schönbrunn, der Mitglied in beiden Verbänden ist, schon seit langem umgesetzt, was ihm im vergangenen Jahr erneut den Titel als bester Zoo Europas einbrachte.
Eine Arche?
Wandert man durch den 1752 gegründeten und damit ältesten noch bestehenden Zoo der Welt, hat man einen durchwegs positiven Eindruck: Viele Tiere genießen die wärmenden Strahlen der Herbstsonne, dösen oder schlafen, andere zupfen genüsslich Heu aus den Raufen oder untersuchen ausgiebig ihr Gehege. Die Tiere scheinen sich im Tiergarten Schönbrunn wohlzufühlen, auffälliges Verhalten wie Stereotypien sind nicht zu beobachten, auch keine Anzeichen von Krankheiten. "Wenn die Tiere gesund sind, ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass sie sich wohlfühlen. Tiere unter Dauerstress werden unweigerlich krank", erklärt Dagmar Schratter, seit Jänner 2007 Direktorin des Schönbrunner Zoos, im Gespräch mit dem "Wiener Journal". "Ein weiteres Indiz für ihr Wohlbefinden zeigt sich im Verhaltensrepertoire – entspricht es ihrem in der Natur üblichen, dann geht es ihnen ebenfalls gut." Abnormes Verhalten wie Stereotypien, etwa ständiges Hin- und Herwandern, das man oft bei Eisbären in Gefangenschaft beobachten kann, oder Weben, eine Schaukelbewegung des Kopfes von einer Seite auf die andere, die durch wechselweises Treten von einem Vorderbein auf das andere begleitet und das oft von Elefanten gezeigt wird, lassen auf nicht artgerechte Haltung sowie mangelnde Beschäftigung schließen. Auch Besucher – entweder zu viele oder mit zu wenig Abstand zu den Tieren – sind Stressfaktoren: "Deshalb bieten die Gehege Rückzugsmöglichkeiten, was aber auch bedeuten kann, dass man ein Tier eben manchmal überhaupt nicht zu Gesicht bekommt. Das Gegenteil ist jedoch zum Beispiel bei Nonja, unserer Orang-Utan-Dame der Fall – sie liebt das Publikum und fühlt sich erst so richtig wohl, wenn ausreichend Bewunderer vor ihrer Anlage stehen", weiß Schratter um die Vorlieben ihrer Schützlinge Bescheid.
Dass sich das Bild und das Selbstverständnis vieler Zoos gewandelt haben, ist eine Tatsache, ebenso wie die nicht verstummende Kritik an Tiergärten im Allgemeinen. Während Zoogegner die Abschaffung der Tiergärten fordern, weil es nicht rechtens sei, Wildtiere in Gefangenschaft zu halten, sind manche Tierethiker zu Kompromissen bereit. Als Beispiel für die teils heftig geführten Diskussionen mag die umstrittene Delfinanlage im Zoo von Nürnberg dienen. Während Direktor Dag Encke die Haltung der Meeressäuger mit dem Argument verteidigte, dass die Beendigung der Delfinhaltung in Deutschland keinen einzigen Delfin der Welt retten würde, die Besucher des Delfinariums für den Schutz südafrikanischer Meeressäuger jedoch eine Million Euro eingebracht hätten, sieht das Sandra Altherr von der Organisation Pro Wildlife anders. Sie lehnt die Haltung von Wildtieren im Zoo zwar nicht generell ab, hält aber manche Arten und zwar solche mit großem Bewegungsdrang, einem komplexen Sozialverhalten und einer hohen Intelligenz als schlichtweg ungeeignet für die Haltung in Zoos.
Auch der Leiter des Instituts für Tierschutz und Tierverhalten an der Universität Berlin, Jörg Luy, sieht das Problem der Tiergärten darin, dass sie niemals Natur sind, sondern nur einen Ersatzlebensraum darstellen. Für Dagmar Schratter hat so ein Ersatzlebensraum allerdings auch Vorteile – natürlich nach menschlichen Maßstäben bemessen: "Tiere haben meist deswegen einen großen Bewegungsdrang, weil sie ihr Futter nicht immer genau vor ihrer Nase finden. Ist die Versorgung gegeben, brauchen auch die Reviere nicht mehr so groß zu sein. Wenn man noch dazu bedenkt, dass die großen Raubkatzen Afrikas, also zum Beispiel Löwen, rund 20 bis 21 Stunden pro Tag einfach nur dösen, dann scheint mir die Haltung dieser Tiere in einem Zoo unter artgerechten Bedingungen durchaus vertretbar."
Das trifft für sie auch auf Eisbären zu. Die entsprechende Anlage in Schönbrunn wurde vor Jahren zwecks Umbau geschlossen, die Eisbären an andere Tiergärten abgegeben. Für das Frühjahr 2014 ist die Eröffnung einer neuen, viel größeren und gut gestalteten Anlage, genannt Franz Joseph Land, geplant. Die Bauarbeiten laufen auf Hochtouren und Schratter ist zuversichtlich, was den Erfolg betrifft: "Wir haben jahrzehntelange Erfahrung in der Haltung und Zucht von Eisbären, deshalb glauben wir, dass wir es auch weiterhin verantworten können, diese Tiere in Schönbrunn zu zeigen. Die neue Anlage bietet neben getrennten Bereichen (Eisbären sind außer in der Paarungszeit Einzelgänger, Anm. d. Red.) jede Menge Beschäftigung und natürlich eine Klimaanlage – obwohl Eisbären viel weniger Probleme mit der Hitze haben als etwa Pandas."
Der Tierschutz-Professor Hanno Würbel würde ihr da widersprechen, in einem Interview mit der "Zeit" betonte er einst, dass er keine Eisbärenhaltung kenne, in der es keine Stereotypien gebe. Schratter sieht die Eisbären aber auch als Botschafter, als die Flagshipart schlechthin für den Klimawandel: "Damit wollen wir unseren Bildungsauftrag betonen, mit den Eisbären gemeinsam wollen wir das Bewusstsein für die Umwelt fördern." Da kann Schönbrunn mit dem größten Landraubtier, dem gerade der Boden unter den Tatzen wegschmilzt, allerdings nicht nur einen Botschafter vorweisen, denn auch die Tiger, die Afrikanischen Elefanten, die Pandas, Nashörner, Menschenaffen, Schildkröten oder bestimmte Vogelarten wie der Waldrapp stehen für die Veränderung der Umwelt und besonders für das Artensterben. So gesehen könnte man Schönbrunn auch als zumindest kleine Arche Noah für bedrohte Tierarten bezeichnen.
Der Zoo ist an vielen Zuchtprogrammen zur Erhaltung bestimmter Arten beteiligt, drei Zuchtbücher – die der Afrikanischen Elefanten, der Fidschi-Leguane und der Japanischen Seraus – werden selbst geführt. Mit diesen international koordinierten Erhaltungszuchten soll die Genvielfalt gewahrt bleiben und eine mögliche Rückführung einzelner Populationen in Gebiete, in denen diese Tiere in freier Wildbahn bereits ausgestorben sind, erlauben. Doch welchen Sinn macht es, Tiere auszuwildern, deren Lebensräume gar nicht mehr existieren oder die ständig der Gefahr ausgesetzt sind, gnadenlos gewildert zu werden? "Es macht Sinn, sie zu züchten, weil wir nicht wissen, was in 30 oder 50 Jahren sein wird. Ausgestorben ist aber ausgestorben", betont Schratter mit Nachdruck. Als Beispiel führt sie das Przewalski-Pferd und den Bartgeier an: "Beide waren ausgestorben, nur aus den kleinen Restpopulationen in den Zoos ist es gelungen, wieder größere Bestände zu züchten und sie zum Teil in die freie Wildbahn zurückzubringen." Dass aber sowohl Przewalski-Pferde als auch Bartgeier immer wieder Menschen zum Opfer fallen, kann und will sie nicht bestreiten, "deshalb gibt es Programme zur Bekämpfung der illegalen Jagd." Dazu bedarf es aber auch der Aufklärung und Unterstützung der Bevölkerung, weshalb etwa der Zoo in Zürich auch ein soziales Projekt in Madagaskar unterstützt: "Naturschutz kann nur unter Einbeziehung der Bevölkerung funktionieren", so Alex Rübel, Zoodirektor in Zürich.
Bewusstseinsbildung
"Um das Überleben von Tieren zu sichern, muss ich die Menschen für sie begeistern. Und auch wenn es noch so tolle Dokumentationen im Fernsehen gibt, der direktere Kontakt wie der in einem Zoo ist viel intensiver und einprägsamer", betont Schratter die Existenzberechtigung von Tiergärten. "In Bezug auf die Bewusstseinsbildung werden mir aber nicht alle recht geben, denn in der internationalen Zoowelt geht es derzeit viel stärker in Richtung Conservation, also Artenschutz. Wobei hier zwischen dem in-situ- und dem ex-situ-Artenschutz unterschieden wird. Ersterer soll das Tier in seinem Lebensraum schützen, zweiterer sind eben die Erhaltungszuchtprogramme in den Zoos." In Schönbrunn findet der interessierte Besucher derzeit über 700 verschiedene Arten und rund 2000 Individuen, rechnet man die Wirbellosen wie Anemonen dazu, sind es rund 8000. "Die Leute bekomme ich aber natürlich hauptsächlich durch die Flagshiparten wie Tiger, Löwe, Panda, Bär oder Elefant in den Tiergarten. Aber sie nehmen ja dann doch alle anderen auch mit und vielleicht sogar deren Wichtigkeit für das ökologische System."
Doch neben dem Erziehungswert des Tiergartens – der sich übrigens von einer amerikanischen Studie, die von David Fennell geleitet und im "Journal of Ecotourism" veröffentlicht wurde, als bedauerlicherweise ziemlich gering herausgestellt hat – steht für Schratter das Wohlbefinden ihrer Schützlinge an oberster Stelle. Deshalb wurde und wird auf bestimmte Arten verzichtet, die Anlagen immer wieder nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen umgebaut oder vergrößert und den Tieren vermehrt Enrichment, also Beschäftigung angeboten. "Sind die Grundbedürfnisse erfüllt und stimmt die soziale Zusammensetzung, dann passen sich die Tiere leicht an, denn sie sind Opportunisten. Um festzustellen, ob sie dennoch Stress haben, gibt es Untersuchungen etwa der Kortisolmetabolite. Zootiere brauchen keine Höchstleistungen zu erbringen, um Futter zu finden oder Feindbegegnungen zu vermeiden, aber sie müssen dennoch ein Maximum ihrer natürlichen Verhaltensweisen ausleben können. Dass es nie alles sein wird, ist aber jedem klar", erklärt Dagmar Schratter.
"Tierliebe bedeutet, Eigenarten und Bedürfnisse der Tiere kennenzulernen und den Verzicht auf Befriedigung unserer eigenen Wünsche, die meist auf viel körperliche Berührung abzielen. Unter echter Tierliebe verstehen wir Freude am Tier unter größtmöglicher Rücksichtnahme auf seine biologischen Erfordernisse", sagte einst Heini Hediger. Dazu bedarf es aber auch der Forschung in den Tiergärten, die zumindest in den gut geführten intensiv betrieben wird. In Schönbrunn sorgt ein eigener wissenschaftlicher Beirat für die Forschungsstrategien. Im Vordergrund steht dabei die Verhaltens- und Kognitionsforschung: So wurde etwa mit einer bioakustischen Studie an den Elefanten ihre Sprache definiert. Dadurch wiederum konnte auf Sri Lanka ein Frühwarnsystem implementiert werden, das den Menschen anzeigte, wenn sich eine hungrige Elefantenherde ihren Reisfeldern näherte: "Wildhüter konnten die Tiere dann rechtzeitig vertreiben und die Elefanten wurden von der aufgebrachten Bevölkerung nicht erschossen", so Schratter. Studien zu Haltungsbedingungen und Medizin ergänzen das Programm.
Geht man durch den Tiergarten Schönbrunn, sieht man jedenfalls hauptsächlich glückliche Menschen, die fasziniert vor den Gehegen stehen und staunen. Kinder finden größten Gefallen an den Robben und ihren Fischfang-Kunststücken oder den Affen, die Tier-babys lösen bei allen entzückte "Ohs" und "Ahs" aus. Die Tiere scheinen die Menschen nicht oder nur bedingt wahrzunehmen, sie haben sich offensichtlich an die ihnen gebotenen Gegebenheiten angepasst. Doch es sind immer menschliche Maßstäbe, an denen ihr Wohlbefinden gemessen wird. Ob es nun das Paradies oder die Hölle für die Tiere ist, werden wir wohl in letzter Konsequenz nie erfahren …
Print-Artikel erschienen im Wiener Journal am 4. Oktober 2013.
Sichtbar gemacht
Der französische Fotograf Gaston Lacombe hat Tiergärten in aller Welt fotografiert und dabei sehr viele Negativbeispiele gefunden. Wie sehr die Tiere dort ihrer Würde beraubt werden und unter unzumutbaren Haltungsbedingungen leiden, kann man auf seiner Website sehen. Auf http://gastonlacombe.com unter der Rubrik "Captive" findet man eine Auswahl dieser erschütternden Bilder.