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Paradiesgarten mitten in der Stadt

Von Reinhard Seiß

Politik

Vor 40 Jahren startete Wiens erstes Partizipationsprojekt der sanften Stadterneuerung. Das Modell ging nie in Serie.


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Wien. Wer in der stark befahrenen Margaretenstraße steht oder sich auf schmalen Gehsteigen an beidseitig parkenden Autoreihen vorbei durch die Preßgasse, die Mühlgasse oder die Schikanedergasse zwängt, ahnt kaum, dass im Inneren des von diesen Straßen umschlossenen Häuserblocks im dicht bebauten 4. Bezirk eine wahre Grünoase liegt.

Noch ungewöhnlicher ist es, dass dieser Park weder den Anwohnern vorbehalten ist noch von der Stadt als öffentliche Grünfläche bereitgestellt wird: Er wird seit 1977 vom sogenannten Gartenhofverein erhalten - und steht untertags jedem offen, der einen der beiden nüchternen Durchgänge von der Margaretenstraße oder Preßgasse aus passiert.

Im Gartenhof angekommen, staunt man über die Lebendigkeit und gleichzeitige Ruhe in den unterschiedlich bepflanzten Teilräumen des Parks: Kinder aller Altersgruppen laufen von einem Spielplatz zum anderen und planschen im Sommer im Wasser des Brunnens. Eltern sitzen in Gruppen beisammen und brauchen sich kaum um ihre Kleinen zu kümmern, zumal hier weder Autos noch Hunde eine Gefahr darstellen. Und während Studenten auf der Wiese liegend lernen, genießen Pensionisten auf windgeschützten Bänken die Natur.

Dass es sich bei diesem Park um ein Stück Wiener Stadterneuerungsgeschichte handelt, bleibt einem aufs Erste verborgen. Nur wer sich öfter hier sehen lässt, wird irgendwann von einer freundlichen älteren Frau mit einem Zahlschein in der Hand gefragt, ob man nicht Mitglied des Gartenhofvereins werden und einen kleinen Beitrag zur Erhaltung der Grünoase leisten möchte.

5000 Quadratmeter Freiraum

Kommt man dabei mit Maria Mahn ausführlicher ins Gespräch, erfährt man, dass sie 18 Jahre lang die Obfrau des Vereins - und vor 40 Jahren eine von rund 50 Mieterinnen und Mietern des Blocks war, die sich zur Gestaltung des gemeinsamen Innenhofs zusammengefunden hatten. Mit freiwilligen Arbeitseinsätzen sorgten sie für die Rodung und Säuberung der bis dahin verwahrlosten und den einzelnen Häusern zugeordneten Hofbereiche - und begannen, den 5000 Quadratmeter großen Freiraum mit vom Stadtgartenamt bereitgestelltem Material zu begrünen.

Derweil lief auch die Sanierung der bereits zum Abbruch bestimmten Wohnhäuser durch die Stadt Wien an: "Ich bin 1967 in die Mühlgasse gezogen und hatte da Zimmer, Küche, Kabinett - ohne Bad und mit Klo am Gang", erinnert sich Frau Mahn. "Nach der Sanierung hatte ich eine Kategorie-A-Wohnung mit Badezimmer, Heizung und allem Drum und Dran. Und statt Holzplanken und ein paar Mistkübeln hatte ich jetzt einen Park vor meinem Hoffenster."

Dass es so weit kam, war keine Selbstverständlichkeit, sondern ein absolutes Novum in der Wiener Stadtentwicklung - ein Wendepunkt in der kommunalen Wohnbau- und Planungspolitik: sozusagen das erste "bottom-up"-Projekt, veranlasst nicht vom Rathaus, sondern von Bürgerinnen und Bürgern aus unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft.

Am Beginn standen drei Fernsehjournalisten des Österreichischen Rundfunks: Helmut Voitl, Elisabeth Guggenberger und Peter Pirker. Sie wollten anhand eines konkreten Baublocks den damals dramatischen Verfall der historischen Bausubstanz Wiens thematisieren und wählten dafür den maroden Block an der Margaretenstraße, unweit des Naschmarkts, als sogenanntes Planquadrat aus: Etwa ein Drittel der Häuser war - nicht untypisch für die Gegend Anfang der 70er Jahre - vom Abriss bedroht. Die Stadt Wien hatte bereits die meisten davon aufgekauft und wollte zusätzlich zur geplanten Neubebauung auch noch eine Verdichtung im Blockinneren vornehmen, als der ORF 1974 in einem halbleer stehenden Gebäude ein eigenes Fernsehstudio einrichtete, um fortan regelmäßig aus dem Planquadrat zu berichten. Durch ihre ständige Anwesenheit vor Ort gelang es den Redakteuren, mit den zunächst skeptischen Mietern in Kontakt zu kommen und bald auch ein Vertrauensverhältnis aufzubauen.

Beinahe gleichzeitig versuchte eine Gruppe von Architekturstudenten im Rahmen eines Planspiels im Planquadrat, die Potenziale der gründerzeitlichen Bebauung herauszuarbeiten und in Gesprächen mit den Bewohnern Umgestaltungsmöglichkeiten zu eruieren. Bald gesellte sich ein Team von freien Architekten um Hugo Potyka und Willy Kainrath hinzu, das sich ebenfalls ein Büro im Planquadrat schuf.

Die Planer demonstrierten in einem der Leerstände mittels einer sanierten Musterwohnung, welche Wohnqualität im Altbau mit leistbarem Aufwand erzielbar ist - und konnten hunderte Wiener für einen Besuch ihres Prototyps interessieren.

Im Laufe der Zeit wurde aus dem Engagement der unterschiedlichen Akteure ein mustergültiger Bewusstseinsbildungs- und Beteiligungsprozess - mit wöchentlichen Mieterversammlungen und gemeinsamen Festen, mit partizipativer Planung, Vermittlung zwischen Hauseigentümern, Bewohnern und Beamten, öffentlichen Ausstellungen und politischem Lobbying. Allein in den Jahren 1974 und 1975 berichtete der ORF 16 Mal über das Projekt, und zwar zur besten Sendezeit: von Beiträgen in Nachrichtensendungen bis hin zu Diskussionsrunden, moderiert vom damaligen Fernsehprogrammdirektor und späteren Wiener Bürgermeister Helmut Zilk.

Medienoffensive

Durch die beispiellose Medienoffensive - man stelle sich heute vor: die Sanierung eines beliebigen Baublocks als bundesweites Gesprächsthema - gelang es, öffentliche Aufmerksamkeit für die Problematik der bis dahin üblichen Kahlschlagsanierung zu schaffen und schließlich auch Bürgermeister Leopold Gratz für das Projekt zu gewinnen. So wurden die maroden Häuser erhalten und sozial verträglich saniert, in einem sogar ein städtischer Kindergarten eingerichtet - und anstatt ins Blockinnere noch einen weiteren Wohnbau zu stellen, dem Gartenhofverein Mittel für die Errichtung von Spielplätzen gewährt. Längst ist aus dem einst unliebsamen Altbauviertel eine der attraktivsten Wohngegenden Wiens geworden - und das vor allem wegen des Planquadrat-Parks, der das Grünbedürfnis von Bewohnern aus dem halben Bezirk stillt.

Trotzdem hat diese unbestrittene "best practice" der sanften Stadterneuerung kaum Schule gemacht, obwohl das Potenzial für eine behutsame Entkernung, Zusammenlegung und Begrünung gründerzeitlicher Blockinnenbereiche in Wien schier unendlich wäre. Doch scheitern dahingehende Konzepte der Stadtplanung - trotz bestehender Fördermittel - in der Regel an der Kooperationsbereitschaft der privaten Grund- und Hauseigentümer. Andererseits hat es die Stadt bis auf wenige Ausnahmen verabsäumt, durch strategische Ankäufe geeigneter Liegenschaften selbst Gartenhöfe zu initiieren und so weitere Kristallisationspunkte innerstädtischer Wohn- und Lebensqualität zu schaffen.

Nicht verordenbar

Was geblieben ist, ist freilich die Erkenntnis, dass eine erfolgreiche Stadterneuerung nicht verordnet werden kann. Es braucht dazu die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger, umso mehr, als es mittlerweile weniger um die Aufwertung unzeitgemäßer Bausubstanz geht als um die Attraktivierung ganzer Quartiere. Nachdem die Zahl der Substandardwohnungen in Wien in den vergangenen 40 Jahren von 300.000 auf rund 40.000 reduziert werden konnte, stehen heute die Rückgewinnung des öffentlichen Raums für andere Nutzungen als den Autoverkehr, die Stärkung von kleinstrukturiertem Einzelhandel, Gewerbe und Gastronomie oder die Vermeidung interkultureller Konflikte in den Gründerzeitvierteln im Fokus der Sanierungspolitik.

Ein von der EU gefördertes Modellprojekt bot der Stadt Wien 25 Jahre nach Gründung des Gartenhofvereins im Planquadrat die Möglichkeit, neue Partizipationsmethoden für diese geänderten Anforderungen zu testen - und zwar im strukturschwachen Volkert- und Alliiertenviertel.

Ein interdisziplinäres Team der Gebietsbetreuung für den 2. und 20. Bezirk, einem von aktuell acht Stadterneuerungsbüros im Auftrag der Stadt Wien, führte zunächst zahlreiche persönliche Gespräche mit den Menschen in diesem abgelegenen Teil der Leopoldstadt: über ihre Probleme im Viertel, über ihre Ideen - aber auch darüber, was sie selbst zur Verbesserung beitragen könnten. Daraufhin definierten interessierte Bürger auf mehreren Veranstaltungen gemeinsame Themen und bildeten Arbeitsgruppen zu deren Weiterbearbeitung. So gelang es dem Arbeitskreis Kultur und Gesellschaft binnen weniger Jahre, durch volksgruppenübergreifende Feste und andere Veranstaltungen das Zusammenleben der verschiedenen Ethnien im Grätzl spürbar zu verbessern.

Die Händler am - von der Stadt sanierten - Volkertmarkt bieten nun wieder attraktive Waren an. Neue Gasthäuser sind im Marktgebiet entstanden, und gleich daneben Spielmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche. Durch die Neugestaltung des Volkertplatzes als multifunktionalen Freiraum hat das Quartier wieder ein Zentrum erhalten, mit dem sich die Bewohner identifizieren - auch, weil sie an dessen Planung aktiv teilnehmen konnten. Und schließlich zogen die Investitionen im öffentlichen Raum die Sanierung privater Wohnhäuser nach sich, sowie Dachgeschoßausbauten für eine Klientel, die vor zehn Jahren noch nicht hierher gezogen wäre. Das wohl eindrucksvollste Beispiel für Aufwertungsprozesse "von unten" ist aber das Brunnenmarktviertel im 16. Bezirk, das vor nicht allzu langer Zeit noch Tendenzen zur Verslumung zeigte. Bis in die 90er Jahre gab es seitens der Bezirkspolitik Überlegungen, den Problemen des Quartiers mit längst überholt geglaubten Sanierungsstrategien zu begegnen - und beispielsweise am Yppenplatz die alten Lagerbauten der Großmarkthändler zu schleifen, um dort ein Hochhaus mit Tiefgarage zu errichten.

Retter Soho Ottakring

Dass es doch anders kam und das Marktviertel heute das Aushängeschild von Wiens sanfter Stadterneuerung ist, ist vor allem der Initiative "Soho in Ottakring" zu verdanken. Die Künstlerin Ula Schneider sah die Vielzahl an leeren Geschäftslokalen im Umfeld des Markts als Chance, moderne Kunst hierher zu bringen, und bemühte sich 1999 erstmals, Bildende Künstler sowie Galeristen aus der Innenstadt für einige Wochen in dieses Grätzl zu lotsen. So wurden aufgelöste Geschäfte zu Ausstellungsräumen, ehemalige Friseursalons zu Ateliers oder eine aufgelassene Tankstelle zum Ort von Kunstvermittlung.

Die Resonanz des Publikums und auch der Medien war so positiv, dass Ula Schneider "Soho in Ottakring" in den folgenden zwölf Jahren jährlich veranstaltete und über die temporäre Bespielung leerstehender Läden hinaus ein umfangreiches soziokulturelles Programm für die lokale Bevölkerung erarbeitete. Soho bescherte nicht nur manch brach gelegener Erdgeschoßzone neue Aufmerksamkeit und in der Folge neue Mieter - auch das Rathaus und die Gebietsbetreuung Ottakring nutzten die plötzliche Aufbruchstimmung im Brunnenmarktviertel, um überfällige Infrastrukturinvestitionen, die Neuorganisation des Verkehrs, massive Verbesserungen im öffentlichen Raum aber auch Bürgerbeteiligungsprozesse in Angriff zu nehmen. Den Abschluss der Maßnahmen bildete die Aufwertung des 700 Meter langen Brunnenmarkts selbst.

Mittlerweile versucht Ula Schneider, mit ihrem Festival den Ottakringer Stadtteil Sandleiten neu zu beleben, zumal das Brunnenmarktviertel keine weiteren Impulse mehr braucht und seine Aufwertung zu einem Selbstläufer geworden ist: Altbauten werden - inzwischen auch ohne Förderungen - renoviert und aufgestockt, Bauträger errichten neue Wohnhäuser, Supermarktketten eröffnen Filialen, aber auch die alteingesessenen Händler investieren.

Insbesondere das hochwertige Gastronomieangebot, das den Yppenplatz zu einem Hot Spot der Wiener Lokalszene machte, lockte ein völlig neues Publikum an, das die Multikulturalität nicht als Standortnachteil, sondern als Attraktion empfindet - und sich zunehmend auch hier ansiedelt. So lange es dadurch zu keiner Verdrängung der angestammten Bevölkerung kommt, ist dies aus Sicht der Stadterneuerung ein durchaus wünschenswerter Prozess. Denn der Zuzug führt zu sozialer Durchmischung und die Kaufkraft der neuen Bewohner zur Stärkung der lokalen Ökonomie. Schließlich gilt am Brunnenmarkt dasselbe wie im Planquadrat: Wenn Menschen gern hier wohnen, ist das der beste Schutz von Niedergang und Verfall.

Zum Autor

Reinhard

Seiß

ist Stadtplaner, Filmemacher und Fachpublizist in Wien sowie Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung.