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Progressive wie Frankreichs Präsident Hollande verwechseln Wachstum und Entwicklung.
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Viel ist in diesen Tagen von Paradigmenwechsel oder radikalem Kurswechsel die Rede. Als Alternative zur Austeritätspolitik in Europa, die vor allem die deutsche Regierung propagiert, sollen nun wieder Wachstumsimpulse durch den Staat gesetzt werden. Die Debatte tobt. Die Befürworter der Sparkurse wie Nationalbankchef Nowotny argumentieren, dass nur dann mittelfristig ein stabiler Wachstumspfad gefunden werden kann. Frankreichs nächster Präsident Hollande möchte eher durch staatliche Ausgaben das Wachstum stärken.
Was aber ist, wenn die Alternative gar keine ist? Diese Diskussionen wirken wie aus einem anderen Film. Genau 25 Jahre ist die Publikation des Brundtland-Berichtes "Unsere gemeinsame Zukunft" her, in dem der Begriff der nachhaltigen Entwicklung in die weltöffentliche Debatte eingeführt wird. Wohlstand heute, so die Botschaft, darf nicht zulasten zukünftiger Generationen gehen. Der scheidende französische Präsident Sarkozy hatte eine Kommission unter Leitung der beiden Wirtschaftsnobelpreisträger Stiglitz und Sen eingerichtet, um die Probleme des Wirtschaftswachstums genauer zu beleuchten.
Doch quer durch die Parteien wird weiterhin auf ökonomisches Wachstum als Allheilmittel gesetzt. Problematisch ist aber der Wachstumsglaube nicht nur im konservativen, sondern auch im politisch progressiven Spektrum. Auf den ersten Blick klingt es plausibel: Die Verteilungsspielräume bei den Primär- und Sekundäreinkommen wachsen bei wirtschaftlichem Wachstum, der Staat hat über größere Steuereinnahmen mehr Möglichkeiten. Angesichts des Produktivitätsfortschritts benötigen wir schon deshalb Wachstum, damit es nicht zu Arbeitslosigkeit kommt.
Das ist so richtig wie strukturkonservativ. Die Fixierung auf Wachstum erschwert progressives Denken auf der Höhe der Zeit. Es fragt nicht, wie wir zu einem tiefgreifenden Umbau der Produktions- und Lebensweise und damit zu einer Reduktion des Naturverbrauchs kommen. Dafür benötigen wir ein ganz anderes Verständnis von Wohlstand und Lebensqualität, das Wachstumsfixierung und Wachstumszwänge auflöst. Hier versagt die Politik. Sie traut sich nicht an die Treiber des Wachstums, nämlich den rastlosen Zwang der Kapitalakkumulation.
Zugespitzt gesagt: Wir müssen zu Investitionsentscheidungen, Technologie- und Infrastrukturentwicklung sowie zu Produktpolitiken kommen, die sich nicht nur den Renditeansprüchen und der globalen Konkurrenz unterwerfen. Es stellt sich die Frage der Demokratie und damit die Frage, wer eigentlich über die Entwicklungsrichtung der Gesellschaft bestimmt. Bislang sind es die Vermögenden und ihre politischen Verbündeten. Eine progressive Perspektive ist: wenn Menschen über die Gestaltung der Gesellschaft mitentscheiden, sich der Probleme bewusst werden und damit aus Einsicht anders handeln.
Dafür bedarf es der Lernprozesse und der Verlernprozesse sowie Konflikte mit den strukturkonservativen Kräften - auch den progressiven. Wir kommen nicht darum herum, wenn nicht die ökologischen und sozialen Probleme verschärft werden und autoritäre Krisenpolitiken weiterhin Oberhand gewinnen sollen. Davon haben wir derzeit - Stichwort Fiskalpakt - ohnehin genug.