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Paradoxon Artikel 7

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
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Mit Artikel 7 des EU-Vertrags verhält es sich wie mit der Drohung gegenseitiger Vernichtung durch Nuklearwaffen: Beide, der Paragraf wie die Atomraketen, wurden konstruiert, um niemals eingesetzt zu werden.

In diesem Paragrafen, mit dem Brüssel der polnischen Regierung nun droht, gibt sich die Europäische Union das Recht, bei anhaltenden und schwerwiegenden Verstößen gegen die fundamentalen Werte der EU, also etwa im Falle von einem systematischen Vorgehen gegen Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, einzelne Mitgliedstaaten der Union zu sanktionieren. Das schwerwiegendste Mittel zu diesem Zweck ist der Entzug des nationalen Stimmrechts in gemeinschaftlichen Entscheidungsprozessen.

Die Hürden dafür sind entsprechend hoch: Am Ende des rechtlichen Prozederes müssen die übrigen Staaten einstimmig gegen den Staat auf der Anklagebank vorgehen. Bei mittlerweile 28, demnächst 27 (minus Großbritannien) und mittelfristig womöglich 30-plus Mitgliedstaaten (Westbalkan, Schottland) kommt das realpolitisch fast einer Herkulesaufgabe gleich. Und deshalb ist - ebenfalls wie im Kalten Krieg - vor dem Einsatz der Paragrafen-Bombe ein so vielschichtiger wie wechselseitiger politischer Kommunikationsprozess mit dem Staat auf der Anklagebank vorgesehen.

Sollte aber alles das nichts helfen, sollte es also tatsächlich zum Einsatz der schärfsten Waffe kommen müssen, dann wäre es eine Niederlage, und zwar höchstwahrscheinlich für alle Seiten, kein Sieg für niemanden nirgendwo.

Deshalb ist die EU im besten Wortsinn ein Debattierklub, ein politisches Wesen von ganz eigener Natur. Dass sie über rechtliche Verfahren verfügt, die auch Mittel des Zwangs beinhalten, ist eine Notwendigkeit. Deren Einsatz ist mitunter unerlässlich, nicht zuletzt, um das größere Ganze, den organisatorischen wie ideellen Überbau zu schützen.

Und trotzdem ist jede Androhung von Artikel 7 eine heikle demokratiepolitische Gratwanderung mit Absturzgefahr. Gerät die nationale Demokratie im Konflikt mit der übernationalen politischen Idee der Union, ist das ein brandgefährliches Spiel. Wenn "Brüssel" zu einer Chiffre für Bevormundung von außen wird und nicht für den Ort, wo alle gemeinsam beraten und entscheiden, ist die Union verloren. Und trotzdem ist Artikel 7 unverzichtbar. Zum Selbstschutz.