1814 - 1914 - 2014: Zwischen diesen Jahren gibt es eine Reihe von Ähnlichkeiten, von denen wir aber nicht wissen, ob ihre Betrachtung uns zukünftig weiterhilft. Es bleiben vor allem Rückblicke - und offene Fragen.
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1814, 1914 und 2014 ereigneten sich unter sehr unterschiedlichen Umständen, aber es gibt einige interessante und provokante Ähnlichkeiten. Man kann sagen, es waren entscheidende Zeitpunkte in der Weltgeschichte. Bei 1814 ist das deutlich zu sehen - die lange Phase mit den Französischen Revolutionskriegen und den Napoleonischen Kriegen endete, und auf diese Kriegsphase folgte eine stark veränderte Welt.
1914 markierte das Ende dieser langen, in der europäischen Geschichte zuvor praktisch noch nie dagewesenen Phase des Friedens von 1814 bis 1914. Es gab in Europa zwar kurze Kriege, aber diese waren überwiegend schnell entschieden. Und so könnte man den Europäern vergeben, wenn sie 1914 dachten, in einer Welt zu leben, in der Krieg überflüssig wurde und es ihn zumindest auf ihrem Kontinent nicht mehr geben würde - und dass sie ein weiteres Jahrhundert außerordentlichen Fortschritts, Friedens und Wohlstands erwarten könnten.
Denn das war es, worauf sie 1914 zurückblicken konnten. Heute wissen wir, dass 1914 nicht der Anfang eines weiteren blühenden Jahrhunderts war. Es war der Anfang eines der schlimmsten Jahrhunderte in der europäischen Geschichte - und der Weltgeschichte.
2014 ist aufgrund seiner Nähe schwieriger zu beurteilen, aber es herrscht Einigkeit darüber, dass die Ereignisse dieses Jahres besorgniserregend sind und nahelegen, dass es gewisse globale Verschiebungen gibt, deren Konsequenzen uns lange Zeit beschäftigen werden. Also kann es helfen, auf diese drei, je 100 Jahre voneinander entfernten Schlüsselmomente zu blicken. Sie ähneln einander dahingehend, dass sie in Welten stattfanden, die sich in einem Prozess wachsender Verbindungen befanden. Europa war als Ergebnis der Napoleonischen Kriege stärker verflochten: teilweise aufgrund der Auswirkungen der Kriege selbst, aber auch wegen der beginnenden großen Veränderung durch die Industrielle Revolution. Auch Reisen und Kommunikation verbesserten sich in Europa.
Die Phase um 1914 war eine Phase wachsender Verflechtung - nicht nur in Europa, sondern zunehmend weltweit. Die erste große Ära der Globalisierung vor unserer Zeit waren die zwei Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, als die Welt auf verschiedenste Arten vernetzt war. Es gab massive Bewegungen von Kapital, Waren und Menschen - das fand seine Entsprechung später einzig in den Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges. Im Jahr 1914 gab es ähnliche Sorgen, wie wir sie heute haben: über die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich; über die Art, wie der Mittelstand unter Druck kam; und über die Art, wie jene, die sich von ihren eigenen Gesellschaften entfremdet und marginalisiert fühlten, zur Gewalt neigten. In der Phase vor 1914 gab es unter Europäern und auch in Teilen Nord- und Südamerikas die wachsende Sorge, dass die Welt ein gefährlicher Ort wurde.
Die Art des Krieges veränderte sich ebenfalls in allen drei Perioden. Die Französischen Revolutionskriege hatten eine neue Beziehung zwischen den Staatsangehörigen eines bestimmten Landes und seinen Regierungen geschaffen. Die Menschen waren in vielen europäischen Ländern - beginnend mit Frankreich - von Staatsangehörigen zu Bürgern geworden. Das führte zu einer veränderten Einstellung der Bewohner eines Landes zu den Kriegen, die dieses Land führte.
Ein gewaltiger Wandel in der Kriegstechnologie ist sowohl heute als auch 1914 zu sehen - 1814 gab es den in diesem Ausmaß nicht. In der Zeit vor 1914 konnten die Europäer dank der Erfolge der europäischen Industrie in Wissenschaft und Technik gewaltige Armeen aufbauen, auf die Schlachtfelder schicken und sie dort so lange versorgen, wie es in früheren Kriegen undenkbar gewesen wäre. Und natürlich wurden sie wesentlich effizienter darin, sich gegenseitig umzubringen. In unserer Zeit sind es die Entwicklung neuer Waffenarten, etwa neuer Drohnentechnologien, und das Potential biologisch-chemischer Kriegsführung, womit wir uns mehr und mehr beschäftigen müssen.
Was es ebenfalls in jeder der drei Perioden zu beobachten gibt, ist das Gleichgewicht zwischen jenen Kräften, die auf Krieg drängen, und jenen, die Frieden wollen. Manchmal gewinnen eher die Kräfte, die Krieg wahrscheinlicher machen, und manchmal eher jene, die auf Frieden drängen. Wir müssen aber auch menschliches Handeln mitbeachten. Natürlich ist unsere Geschichte von wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen, intellektuellen und religiösen Kräften beeinflusst, aber es gibt Schlüsselmomente, in denen hauptsächlich aus Machtpositionen heraus Entscheidungen getroffen werden.
Russlands Entfremdung
Wir müssen uns nur vor Augen führen, was der Wiener Kongress bedeutet hat. Das europäische Konzert, das aus der Konferenz in Wien 1814/15 entstand, brachte den europäischen Nationen das Verständnis nahe, dass sie ein gemeinsames Interesse am Frieden haben. Es half, eine Gemeinschaft der Nationen zu schaffen und Staatsmännern bewusst zu machen, dass es andere Wege der Konfliktlösung gibt als Krieg.
Aber dieses System hielt nicht; es begann mit dem Krim-Krieg in den 1850er Jahren zusammenzubrechen. Als die Großmächte Großbritannien und Frankreich gegen Russland in den Krieg zogen, diente das dazu, Russland zu entfremden und es aus einem internationalen System zu treiben, an dem es stark beteiligt war. Es gab also einen dauerhaften Einfluss auf Russlands Beziehungen zum Rest Europas.
Im Jahr 1914 kam es zum Zusammenbruch des Konsenses, der sich nach den Napoleonischen Kriegen eingestellt hatte, und Staaten griffen zunehmend wieder zur Haltung des 18. Jahrhunderts zurück, dass internationale Beziehungen ein anarchisches System wären, in dem jemand zu verlieren und jemand zu gewinnen hätte. Die Europäer gingen mit dem Glauben in den Ersten Weltkrieg, dass es ein kurzer und entscheidender Krieg werden würde.
Wir wissen, er war es nicht. Europa blieb 1918 schwer beschädigt zurück. Es hatte viel seines Wohlstands und seiner Überlegenheit in der Welt verloren. Es war vom mächtigsten Teil der Welt zu einem verarmten geworden, seine Imperien begannen zu schwanken, und neue Mächte, besonders die Vereinigten Staaten, kamen gestärkt auf die Weltbühne. Dieser Krieg half auch die Bedingungen zu erschaffen, aus denen der Zweite Weltkrieg entstand. Ich glaube, man kann sagen, dass es den Zweiten Weltkrieg mit diesem unglaublichen Schrecken nicht gegeben hätte ohne dem, was zwischen 1914 und 1918 passierte. Die Tragödie des Friedensstiftens von 1919 und unmittelbar danach war, dass die objektiven Bedingungen für Frieden einfach nicht gegeben waren. Anders als beim Wiener Kongress, als Europa bereit für Frieden war, gab es nach 1918 in vielen Fällen wachsende revolutionäre Kräfte: Nicht nur Bolschewismus und Faschismus, die dabei waren, Vorbilder für ähnliche Bewegungen weltweit zu werden, sondern auch die wachsenden revolutionären Kräfte des ethnisch basierten Nationalismus, die fast unmöglich in Schach zu halten und zu befriedigen waren.
Grenzen nach 1919
Die Friedensstifter der Friedenskonferenz von Paris 1919 fanden sich in einer Situation wieder, Grenzen für ethnisch basierte Staaten im Zentrum Europas, in denen die Volkszugehörigkeiten komplett vermischt waren, zu ziehen. Als sie schließlich zu so etwas wie Grenzen nach 1919 kamen, war etwa ein Drittel aller Bewohner im Zentrum Europas eine ethnische Minderheit in dem Staat, in dem es sich wiederfand, und es handelte sich nun um ethnisch fundierte Staaten.
Es gab damals auch starke Hoffnungen, dass je stärker die Welt wirtschaftlich verflochten werde, desto sicherer und stabiler würde sie. Wie wir wissen, geschah das damals nicht. Es war aber ein ehrenwerter Versuch - und 1945 wurde ein neuer Versuch unternommen, eine internationale Weltordnung zu schaffen. In dieser Periode engagierten sich die USA - anders als zuvor - am Aufbau einer großen Zahl an internationalen Institutionen, und obwohl der Kalte Krieg dazwischen kam, wurde er immerhin nicht zu einem heißen Krieg.
Dieses System brachte uns eine lange Periode des Friedens. 2014 markiert vielleicht das Ende dieser Periode des Internationalismus und der internationalen Kooperation seit 1945. Wir sehen zunehmend politische Alleingänge bestimmter politischer Mächte, die das System untergraben - wie zuletzt vor allem von Präsident Putin auf der Krim und in der Ukraine. Es könnte sein, dass wir nun in einer Periode des Wandels leben - so wie die Menschen nach Verblassen des Systems des Wiener Kongresses und dem Scheitern des Völkerbundes. Aus diesen beiden vergangenen Perioden gibt es für uns einige Lektionen zu lernen. Wir müssen einen Weg finden, mit dem Kampf leben zu können, den es in Gesellschaften und internationalen Ordnungen zwischen den Kräften der Stabilität und des Wandels immer gibt. Wie schafften wir es, den Wandel in Grenzen zu halten, ohne ihn zu verhindern, wie schaffen wir es, Stabilität zu erhalten?
Ein weiteres Problem, mit dem die Menschen in den damaligen Perioden zu kämpfen hatten, und mit dem auch wir zu kämpfen haben, ist die Frage, wie wir mit dem Ende von Imperien umgehen. Wir tendieren dazu, nicht in Imperien zu denken, weil die meisten davon verschwunden sind, aber wir sehen das Problem seit dem Auftauchen der Länder an der Peripherie der alten Sowjetunion. Wie gehen wir also mit neuen Staaten um, die aus Imperien hervorgehen, in denen sie keine Erfahrung von Autonomie hatten?
Fragen über Fragen
Wie gehen wir mit dem Wandel der öffentlichen Meinung um? Seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist öffentliche Meinung ein Faktor, dessen sich jede Regierung bewusst sein muss. Die Antwort auf diese Frage wird zunehmend schwieriger, da die öffentliche Meinung fließend wurde und sich in vielen verschiedenen Medien äußern kann. Medien wie Twitter werden in Krisen immer wichtiger, da sie wesentlich aktueller sind als konventionelle Medien. Das ist nicht notwendigerweise eine gute Sache, solche Medien können auch irreführend und gefährlich sein.
Wie gehen wir mit der Gefahr von lokalen Konflikten um, die dort, wo es Interessen von Großmächten gibt, möglicherweise größere Auswirkungen haben? Ähnliche Gefahren wie am Balkan 1914 sehen wir heute im Nahen Osten, im Irak und in Syrien und auch im Ost- und Südchinesischen Meer, wo lokale Konflikte von Großmachtkonflikten überlagert werden.
Wie gehen wir mit der Notwendigkeit um, Vertrauen zwischen den Nationen zu schaffen? Wie gehen wir mit der Frage um, Nationen einzubinden, die sich vom internationalen System entfremdet fühlen? Genauso wie früher sind auch heute Staatskunst, Führungskraft und Diplomatie dabei sehr wichtige Werkzeuge. Die Verflechtung der globalen Ordnung ist heute im Vergleich zu früher beispiellos. Aber wie schaffen wir internationale Institutionen und Normen, die funktionieren? Und wie stützen wir jene, die wir bereits haben?
Wie gehen wir mit der internationalen Machtverschiebung um, die sich abzuzeichnen beginnt? Wir erleben vermutlich das Ende der amerikanischen Hegemonie, die seit dem Ende des Kalten Krieges geherrscht hat. Wird es einen anderen Hegemon geben? Wird China bereit sein, die Rolle zu spielen, die die USA und Großbritannien beim Aufrechterhalten der Weltordnung spielten? Oder wird es eine Reihe von regionalen Großmächten ohne globalen Hegemon geben? Das ist - wie so vieles - schwer vorherzusehen.
Weltgemeinschaft?
Die Probleme, denen wir uns stellen müssen, sind nicht nur politischer Natur. Wie gehen wir mit Umweltthemen um, die die Welt als Ganzes betreffen? Wie mit sozialer Ungleichheit, der Kluft zwischen Arm und Reich? Wie mit dem gewaltigen Anstieg an Flüchtlingen? Wie wenden wir uns den wirtschaftlichen Instabilitäten zu? Seit 2008 haben wir eine schwierige Zeit durchlebt, aber wir sind keineswegs über den Berg, und es gibt gute Gründe anzunehmen, dass unser Wirtschaftssystem viel fragiler ist, als wir glauben wollen.
Wie gehen Regierungen und Parteien mit ihrer eigenen Wählerschaft um, die von der Politik desillusioniert und ernüchtert ist? Eines der großen Probleme der Europäischen Union ist, dass die Menschen vergessen haben, warum ihre Gründung so notwendig und wertvoll war. Von fundamentaler Bedeutung wird schließlich die Frage sein, ob die internationale Weltordnung zusammenbricht oder ob sie sich verändert? Kann man weiterhin überhaupt von einer Weltgemeinschaft mit gemeinsamen Werten und Regeln und Respekt für die Rechte und Interessen anderer sprechen? Ich glaube, alle diese Fragen sollte man sich stellen. Möglicherweise hilft uns schon allein ihre Betrachtung dabei, klarer zu sehen, was es braucht und was wir alle gemeinsam tun könnten.
Übersetzung: Matthias Nagl
Margaret MacMillan, geboren 1943 in Toronto, ist Professorin für internationale Geschichte an der Universität Oxford und Leiterin des St.
Antony’s College. Dieser Text ist ein Auszug ihrer Eröffnungsrede bei der Veranstaltung "1814 - 1914 - 2014", die das Salzburg Global Seminar
und das International Peace Institute gemeinsam veranstalteten. Ihr jüngstes Buch heißt "The War That Ended Peace. The Road to 1914" und ist
bei Profile Books in London erschienen.