![Eine Illustration einer Frau mit Kopftuch.](https://media.wienerzeitung.at/f/216981/2500x1875/a87666ab3f/wz_podcast_header_fatima_storer.jpg/m/384x288/filters:quality(50))
Botschafterin Ursula Plassnik schreibt in der Post-Terror-Tristesse eine Liebeserklärung an Paris.
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Paris. Ville Lumière - "Lichterstadt", Stadt aller künstlichen Lichter der Nacht, aber auch ganz einfach des Lichts. Wer länger hier lebt, findet unweigerlich seine ganz persönliche Verbindung zur meistbesungenen, meistfotografierten, meistgefilmten Stadt der Welt. Es geht ganz leicht, ohne die geringste Anstrengung, man braucht nur die Augen aufzumachen.
Es ist der Himmel von Paris, der einen gefangen nimmt, genauer gesagt das Licht von Paris, die Lichtspiele auf der riesigen Himmelsleinwand, an den Tagesrandzeiten, in der langen Stunde frühmorgens zwischen Nacht und Tag, wenn die Stadt erwacht und die Pariser noch schlafen. In der langen Stunde frühabends, wenn die Nacht sich anschleicht und jeder in irgendeine Richtung läuft oder fährt. Dann hat man Paris ganz für sich allein, obwohl alle noch da sind. Eines der Geheimnisse von Paris ist dieses Leuchten. Der atemberaubend rasche Wechsel von Farben am Himmel und im Wasser der Seine, diesem breiten Band, das die beiden Stadtteile zusammenhält. Das Wasser des Flusses - bewegt, spiegelglatt, aufgewühlt - verbindet über die Brücken spielerisch spiegelnd Himmel und Erde. Nie werde ich entscheiden können, welche die schönste ist unter den Brücken, die eleganteste, die mit dem vollendeten Schwung. Die Pont Royal mit ihren fünf Bögen, oder doch die Pont Neuf an der Spitze der Ile de la Cité? Zwischen der Stadt und dem Meer im Westen gibt es keine natürliche Erhebung, kein Gebirge, die Wolken brausen im Tiefflug über die Stadt, ungebremst.
An manchen Tagen arbeitet sich die Sonne am Horizont empor, goldgleißend, und darüber liegt ein undurchdringlicher dunkelbrauner Wolkendeckel, dann wieder ist der Himmel so zart, so zerbrechlich, so ungewiss wie barocke Rosensorten aus den Bildern von Elisabeth Vigée Le Brun.
In keiner anderen Stadt der Welt gibt es so viele und so prachtvolle Regenbögen. Es regnet oft in Paris, doch während Brüssel oder London das Regenwetter nicht verziehen wird, trägt keiner Paris das nach. Das Licht steckt aber auch im hellgelben Stein, aus dem Paris gebaut ist. Eine vanillefarbene Diva, uralt, hinter der zu dick aufgetragenen Schminke lauert schon anderes, Dunkleres, Endgültigeres.
Paris muss seinem Ruf gerecht werden, daran führt kein Weg vorbei. Die Stadt der Liebe muss rosarot sein. Man spricht vom "Paris-Syndrom", manche Japaner schaffen den harten Aufprall in der Realität nicht, sie werden psychisch instabil, wenn sie konfrontiert sind mit Regengüssen, übelgelaunten Kellnern und völlig überzogenen Preisen.
Alle Sinne sind nach den Anschlägen geschärft
Das Grau dieser Tage, die Tristesse nach dem Terror des 13. November steht dieser mondänen Stadt nicht. 12 Millionen Menschen, sagt man, leben hier, aus allen Windrichtungen, von allen Kontinenten. 17 Nationalitäten waren betroffen von den Attentaten. Wie kann man reden über die Lichter der Stadt, die kunstvoll arrangierten Beleuchtungen der Brücken und Denkmäler, der Paläste und Kirchen, wenn gerade 132 Unschuldige blutig niedergemetzelt wurden, wahllos, ohne Rücksicht auf Herkunft und Religion? Wie leben mit der allgegenwärtigen Unsicherheit, wie fertig werden mit der Atemlosigkeit? Alle Sinne sind geschärft, jeder Alltagslärm wird zum Alarmzeichen. Der rumpelnde Mistwagen, der Schlagbohrer auf der Baustelle nebenan, die Sirenen der Rettungswägen und Feuerwehrautos, das alles gehört schon immer zur Hintergrundmusik der großen Stadt. Das ist ihr basso continuo. Und doch, mit einem Schlag ist alles anders, alles erscheint bedrohlich. In der Metro ist es am schlimmsten. Wenn der Strom ausfällt, wie so oft, dann warten hunderte Menschen zehn, 15 endlose Sekunden lang in der Finsternis. Absolute Stille, Bewegungslosigkeit, Schockstarre.
Am schlimmsten hat es die Jungen getroffen, sagt eine Psychologin. Die Jungen zwischen 20 und 40, sie sind angegriffen worden von ihren eigenen Altersgenossen, es waren nicht die Fremden, die Alten, die Anderen. Im Fußballstadion, auf den Terrassen, beim Rockkonzert. Die Todbringenden waren junge Menschen zwischen 20 und 30. Ein Krieg der einen Jugend gegen die andere, unbegreiflich, unfassbar.
Paris ist eine großzügige Stadt, sie liebt die Unterschiede, stellt sie überall heraus, fördert sie zu Tage, ein Gewächshaus des Kreativen. Paris, das ist ein großes Fest der Einzigartigkeit, an dem jeder teilhaben, in das jeder sich einklinken darf. Denn Paris ist nicht zuletzt eine Stadt der Freigeister. Anderer Meinung zu sein gehört dazu, das Diskutieren, das respektvolle Streitgespräch, die Eleganz im Austausch der Argumente, das feine Wortgefecht.
Freilich, die Stadt ist durchzogen von unsichtbaren Trennlinien und bedeckt mit Verbotszonen. Gesellschaftsschichten, hermetisch voneinander abgeschottet, nackte Armut von protzigem Reichtum, sind hermetisch voneinander getrennt. Wer wo dazugehört, erkennt man an der richtigen Kleidung, der passenden Wortwahl. Aber auch wer keine Lust am Dazugehören hat, findet Platz, badet im Pariser Sonnenlicht, wird vom Regenschauer gebeutelt, steht und staunt. Der kauft sich in der Morgendämmerung einen kleinen Espresso und lehnt an der Bar mit den Handwerkern und Arbeitern, in stiller Komplizenschaft. Der steckt sich ein frisches Baguette unter den Arm und bleibt in der Buchhandlung stehen am Samstagmorgen.
Ihr Kopf ist durchs Fenster vom 3. Stock gefallen
Auf meiner Morgenrunde entlang der Seine begegne ich den Joggern und den Hundebesitzern, manchmal setze ich mich ganz leise vor Claude Monets riesige Seerosen-Bilder in der Orangerie, um 9 Uhr Früh, noch bevor die Menschenketten beginnen und die Touristen auf ihren "Augen-Blick" warten. Dann spüre ich den Einklang mit dieser Stadt und dem, was sie uns sagt. Dass die Schönheit beständiger ist als der Hass. Dass das Leben Macht hat über die Gewalt.
Gegen Ende des Tages, wenn ich dem Hamsterrad des Getriebenseins entkommen will, setze ich mich ab und zu auf eine Navette bei der Pont Neuf und lasse mich stromabwärts schiffen, bis zum Eiffelturm und zurück, um die beiden Flussinseln, von denen fast alles ausging in der 2000-jährigen Geschichte der Stadt. Ich umkreise die unzähligen Blumengeschäfte, deren florale Bouquets und Arrangements überquellen auf die Trottoirs, ich laufe spätnachts durch die engen Straßen des mittelalterlichen Universitätsviertels, am zauberhaft erleuchteten, langestreckten, spätgotischen Collège des Bernardins vorbei, ich schaue vom letzten Stock des Beaubourg auf die Conciergerie hinunter, es sieht unecht aus und kitschig und doch ist es real. Marie-Antoinette wurde dort gefangen gehalten, bevor die Pariser sie öffentlich enthauptet haben. Am Donnerstag hat sich eine 26-jährige Dschihadistin selbst geköpft, in die Luft gesprengt mit einem Sprengstoffgürtel, am anderen Ende der Metro Nummer 13, in St. Denis, drei Schritte von der Begräbniskirche der Merowinger-Könige. Ihr Kopf ist durchs Fenster vom dritten Stock auf die Straße gefallen, berichtet der Einsatzleiter der Anti-Terror-Brigade im Zeitungsinterview.
Viele gehen abends auf die Place de la République, sie haben die letzte Blume abgeschnitten auf ihrem Balkon oder im Vorgarten, legen sie dort nieder. Legen Zettel hin mit der Aufschrift "Wir fürchten uns nicht". Kerzen stehen in den Fenstern, eine alte Tradition in Paris, angeblich haben die Pariser das schon im 19. Jahrhundert getan, damals gab es viel Kriminalität und die Straßen waren finster. Auch das, sagt das Lexikon, eine der vielen Theorien, warum Paris "Stadt des Lichts" genannt wurde. Man spürt, dass Zusammenhalt stärkt im Widerstand gegen das Unbegreifliche. Es kann jeden treffen, dich und mich, jetzt und morgen.
Kinder stellen endlos Fragen, die Eltern sind oft ratlos
Die Pariser wenden sich einander zu, diskret, fast verschämt. In den Vorortezügen, auf der allmorgendlichen Fahrt in die Stadtbüros, rücken die Passagiere zusammen, sie kennen einander vom Sehen, jetzt reden sie miteinander oder spenden einander wortlos ein bisschen Trost und Wärme, noch sind alle in der Gefahrenzone. Vor den Blutspendezentren stehen lange Schlangen, 9000 Menschen haben in diesen Tagen Blut gespendet für die Verletzten des 13. November. Die Kinder stellen endlos Fragen, die Eltern sind oft ratlos, wie sie das Unerklärliche erklären sollen. Hanna will beim Einsteigen in den Schulbus plötzlich wissen, ob jetzt alle Attentäter gefangen sind, und der Vater sagt ihr wahrheitsgemäß, dass einer noch fehlt. Sie denkt nach, der Vater versichert ihr, dass die französischen Polizisten auch den letzten schnell unschädlich machen werden. Es ist ausgeschlossen, dass er in ihre Schule kommt. In den Schulen wird viel geredet mit den Kindern, die Psychologen arbeiten rund um die Uhr. In einem Café um die Ecke trinkt eine Freundin frühmorgens nach einer schlaflosen Nacht einen Kaffee, plötzlich steckt ihr ein Unbekannter ein Porträt zu, das er gerade von ihr gemacht hat, wenige Striche, aber perfekt Person und Stimmung erfassend. Er will nichts von ihr, kein Gespräch, kein Geld, keine Aufmerksamkeit. Er hat es gemacht. Einfach so.
Ursula Plassnik war von 1997 bis 2004 Kabinettschefin bei Wolfgang Schüssel, danach Botschafterin in der Schweiz und von 2004 bis 2008 Außenministerin. Bis 2011 war Plassnik Nationalratsabgeordnete, seither ist sie Botschafterin in Paris.